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Tödliches Wasser: Roman (German Edition)

Tödliches Wasser: Roman (German Edition)

Titel: Tödliches Wasser: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Qiu. Xiaolong
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Doch sie war noch so jung; Frühling erschien ihm hier passender als Herbst.
    Hinter ihr an der Kabinenwand hing ein Scherenschnitt aus rotem Papier. Wenngleich etwas zerfleddert, so war darin doch ein symbolträchtiges Muster aus Fischen und Blumen zu erkennen, das für leidenschaftliche Liebe und fruchtbare Ehe stand.
    Leicht schlingernd schob sich der Sampan auf den See hinaus, die Stange des Bootsführers ließ im Kielwasser eine vergängliche Linie zurück.
    Als sie den Mantel auszog, leuchteten ihre weißen Schultern vor dem dunklen Hintergrund. Sie goss ihm Wasser aus der mitgebrachten Flasche in eine der Teeschalen auf dem Tischchen.
    »Sie sind wirklich vorsichtig.«
    »Heutzutage kann man nicht vorsichtig genug sein.«
    »Das klingt wie etwas, was ich kürzlich gelesen habe.«
    »Schon wieder? Sie scheinen ja nichts als Gedichte im Kopf zu haben.« Ein spöttisches Lächeln erhellte ihr lebhaftes Gesicht. »Sind Sie wirklich ein so romantischer Tourist?«
    »Ich weiß auch nicht, jedenfalls habe ich mir schon immer gewünscht, mal einen Tag auf dem See zu verbringen«, gab er zu. »Besonders schön ist es natürlich in Ihrer Gesellschaft.«
    Auch das klang wie das ferne Echo vergangener Lektüre, wenngleich nicht unbedingt nach dem Werk eines Lyrikers. Jedenfalls schien er kein Problem mit der Rolle zu haben, die sie ihm zugewiesen hatte.
    »Sollen wir zu den Drei Himmelsinseln fahren?«, wollte der Bootsführer wissen. »Dort gibt es taoistische Tempel, Pavillons, Pagoden und den Jade- und Kristallturm mit wunderbarem Ausblick.«
    »Neben dem Park ist das die größte Touristenattraktion«, kommentierte Shanshan. »Laut Führer sehen die Inseln von weitem wie eine Schildkröte aus. Und sie sind stets überlaufen von Besuchern.«
    »Dann lieber nicht. Wie gesagt, ich bin kein typischer Tourist«, mischte Chen sich ein. »Ich halte es da lieber mit den Versen Su Shi: Kalt kann es werden, dort im Jade- und Kristallturm / nicht zu vergleichen mit dem Tanz / hier in der Menschenwelt.«
    »Da gebe ich Ihnen völlig recht«, sagte der Bootsführer. »Mein Schiff steht tanzend zu Ihrer Verfügung.«
    »Woran denken Sie gerade – ich meine, jetzt mal nicht als Tourist?«, fragte Shanshan.
    »An ein paar andere Zeilen, die mir gerade einfielen: Wellen kräuseln sich in ihrem Blick. / Berge erheben sich, wenn sie die Brauen schürzt. / Wo wird der Reisende seinen Besuch abstatten?   / In der bezaubernden Landschaft ihrer Augen und Brauen. Und nein, das ist nicht von mir, sondern von dem Tang-Dichter Wang Guan. Für ihn war der Frühling gleichbedeutend mit Schönheit. Deshalb endet das Gedicht auch wie folgt: Wenn du den Frühling triffst /südlich des Flusses, sieh zu / dass sie an deiner Seite ist. Hier bin ich, mit Ihnen an meiner Seite.«
    »Sie überwältigen mich«, sagte sie und lächelte zaghaft.
    Heutzutage war es nicht mehr üblich, Gedichte zu zitieren, doch sie schien sich nicht daran zu stören.
    »Sie sind ein wahrer Dichter!«, mischte der Bootsführer sich ein. »Soll ich Ihnen ein paar Schifferlieder vorsingen?«
    »Schifferlieder?«
    »Ja, das hat Tradition hier«, erklärte der Bootsmann mit breitem Grinsen. »Kennen Sie die Liebeslieder aus der Sammlung des Tang Bohu?«
    Chen erinnerte sich, dass in den Geschichten um den Gelehrten und Maler aus der Ming-Dynastie auch ein singender Bootsmann vorkam. Da begann ihr eigener Bootsführer auch schon in starkem Wu-Dialekt von ewiger Liebe zu singen:
     
    Rote Pfirsichblüten
    überziehen die Hänge,
    umflossen von der
    Frühlingsflut der Flüsse.
     
    Die Blütenpracht verblasst, mein Herr,
    das Wasser fließt davon,
    nicht aber Eure Leidenschaft,
    grenzenlos wie meine Zuneigung.
     
    Zu seiner Verwunderung erkannte Chen in dieser uralten Melodie für Liebende eine Komposition von Liu Yuxi, einem weiteren bekannten Tang-Dichter.
    »Gut gemacht«, sagte Shanshan und klatschte.
    »Bravo«, pflichtete Chen ihr bei. »Ich erhöhe das Fahrgeld um zehn Yuan.«
    Die Blicke des Bootsführers waren auf Shanshan geheftet. Vermutlich sang er für sie und fühlte sich dabei in seine Jugend zurückversetzt.
    Auch sie musste das bemerkt haben, denn sie tätschelte über den Tisch hinweg Chens Hand und lächelte ihm begütigend zu.
    Der Sampan glitt über die Wasserfläche, während der Bootsmann jetzt singend eine über die Jahrhunderte unwandelbare Leidenschaft beschwor.
    In der Ferne tauchten einige Ruderbote auf, stumpfnasig oder mit spitzem Bug. Eines davon

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