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Tödliches Wasser: Roman (German Edition)

Tödliches Wasser: Roman (German Edition)

Titel: Tödliches Wasser: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Qiu. Xiaolong
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raste, offenbar unterwegs dorthin, an ihm vorbei; der Wagen hupte und wirbelte beträchtliche Staubwolken auf.
    Ein Stück weiter wies ein Schild auf eine Touristenattraktion hin, einen Bambuspavillon, der teilweise über die Bäume eines bewaldeten Hügels hinausragte. Vermutlich hatte Chen dessen poetischen Namen schon auf seinem Plan gelesen, doch an diesem Nachmittag war er nicht in Stimmung für touristische Unternehmungen.
    Bald kam er an die Abzweigung, die zu Onkel Wang führte, doch diesmal ging er weiter. Er wollte in Ruhe über den Fall nachdenken.
    Polizeimeister Huang konnte ihm, trotz all seiner bisherigen Bemühungen, im Moment nicht weiterhelfen, und außer ihm kannte Chen in Wuxi nur Shanshan. Aber ihr hatte er seinen Beruf verschwiegen. Nicht dass eine Enthüllung seiner wahren Identität ihre Treffen belastet hätte, aber wenn Shanshan erst einmal Bescheid wüsste, würde sie sicher nicht mehr so offen mit ihm reden.
    Chen kam zu einer kleinen Schenke an der Ecke einer schmalen Gasse. Es war ein schäbiges, einfaches Lokal, wo man ein, zwei Gläser zu einem billigen Gericht trank oder gar nichts aß. Vermutlich eine jener altmodischen Tavernen, wie sie in den Geschichten von Lu Xun vorkamen. Chen entdeckte auch einige grobe Holztische mit Bänken im Freien.
    An einem der Tische saßen zwei Männer mittleren Alters, zwischen sich eine Flasche Schnaps, die sie mitten am Tag mit Entschlossenheit leerten.
    Zwei Alkoholiker, die längst in ihre eigene Welt abgedriftet waren, vermutete Chen, doch dann verlangsamte er seinen Schritt. Er hatte einzelne Zeilen eines Trinkspiels aufgeschnappt, bei dem man in rascher Folge auf den Satz des Mitspielers antworten musste.
     
    »Auf ein Märchen, das wir vor langer, langer Zeit unseren Kindern erzählten, als der Himmel noch blau war …«
    »Und das Wasser klar …«
    »Und man Fische und Krabben noch essen konnte …«
    »Und frische Luft atmete …«
    »Auf ein Märchen, das wir vor langer, langer Zeit unseren Kindern erzählten, … leere ich jetzt meine Schale …«
     
    Das klang wie die traditionellen Kettenverse, mit denen sich altchinesische Dichter die Zeit vertrieben hatten, wobei die Zeile »ein Märchen, das wir vor langer, langer Zeit unseren Kindern erzählten« den Refrain bildete. Ein Teilnehmer konnte ihn alle paar Zeilen wiederholen und sich damit eine Verschnaufpause verschaffen. Derjenige, dem nicht rasch genug eine inhaltlich und syntaktisch passende Zeile einfiel, hatte die Runde verloren und musste zur Strafe trinken. Einziges Problem bei dem Spiel war, dass beide Mitspieler letztlich trinken wollten. Also verloren sie mit Absicht.
    Chen hatte keine Ahnung, wie lange das hier schon so ging, aber nach der halbvollen und den beiden leeren Flaschen am Tisch zu urteilen, saßen die beiden schon eine ganze Weile da. Es war nicht die Form des Trinkspiels, sondern dessen Inhalt, der ihn faszinierte. Auch wenn diese Zeilen surreal klangen, so konnte man sie doch als satirischen Kommentar auf die heutige Gesellschaft verstehen. Viele Dinge, die einst selbstverständlich gewesen waren, erschienen nun so unrealistisch und unerreichbar wie »im Märchen«.
    Chen ließ sich am Nachbartisch nieder und klopfte mit den Fingern den Rhythmus dieses Rap auf den schnapsbefleckten Tisch.
    Doch er hatte sich nicht nur wegen des Trinkspiels hingesetzt. Das Lokal lag nicht weit von der Chemiefabrik entfernt, und waren die Zungen der Menschen erst gelöst, so redeten sie ohne Vorbehalt. Schon einmal hatte Chen im Zuge von Ermittlungen in Shanghai entscheidende Informationen von einem Betrunkenen erhalten, ein alter Nachbar, den er seit vielen Jahren kannte. Doch hier, in einer fremden Stadt und mit zwei Unbekannten würde er wohl nicht nochmals so viel Glück haben. Einen Versuch war es trotzdem wert.
    Angespornt von seinem Interesse für ihr Spiel, liefen die beiden am Nebentisch zu Hochform auf und knallten sich die Sätze nur so um die Ohren:
     
    »Als das Gericht noch Recht sprach …«
    »Und der Arzt dem Patienten half …«
    »Als die Medizin noch Bakterien tötete …«
    »Auf ein Märchen, das wir vor langer, langer Zeit unseren Kindern erzählten, … leere ich meine Schale …«
     
    Ein verkrüppelter Kellner kam aus der Küche gehinkt. Er wischte sich die Hände an einer fettigen grauen Schürze ab, die an eine verblichene Landkarte erinnerte. Dann lächelte er Chen aus seinem runzligen

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