Tödliches Wasser: Roman (German Edition)
Straße unten am See gefolgt, aber nicht Richtung Park. Dabei bin ich an einer Chemiefabrik vorbeigekommen, wo angeblich jemand umgebracht wurde. Wissen Sie vielleicht etwas darüber, Direktor Qiao?«
»Ja. Liu, der Firmenchef, wurde ermordet in seinem Privatbüro aufgefunden«, erwiderte Qiao. »Die Chemiefabrik ist ein sehr erfolgreicher Betrieb, kurz vor dem Börsengang. Ein Jammer! Dieser Liu hätte Milliardär werden können.«
»Milliardär, na und?«, mischte der silberhaarige Ouyang sich kopfschüttelnd ein. »Ein altes Sprichwort sagt: Ganz gleich ob arm oder reich, wir enden alle in einem Hügel gelber Erde. Keiner entkommt kalpa – dem Untergang .«
»Man könnte es auch karma , Vergeltung, nennen«, erwiderte Chen. »Es wird viel über Umweltverschmutzung durch diese Fabriken geredet.«
»Nein, mit karma hat das nichts zu tun, Herr Chen. Von so komplizierten Dingen wie Umweltverschmutzung versteht ein einfacher Mensch wie ich nichts. Ich weiß bloß, dass die Leute hier vor der Wirtschaftsreform kaum satt wurden. Während der sogenannten drei Katastrophenjahre sind viele sogar verhungert, wie Sie sicher wissen. Genosse Deng Xiaoping hat zu Recht betont, dass Fortschritt Vorrang vor allem anderen hat. Könnten Sie sich den heutigen Wohlstand dieser Region ohne die Fabriken vorstellen, Herr Chen?«
Aber zu welchem Preis? Chen schluckte die Frage hinunter.
»Lius Fabrik hat das Erholungsheim mit großen Summen unterstützt«, bemerkte Qiao nachdenklich. »Ich frage mich, ob der neuen Firmenchef das ebenfalls tun wird.«
Alles war eine Frage des jeweiligen Blickwinkels. Kein Wunder, dass die örtlichen Beamten diese Form der Wirtschaftsentwicklung nach Kräften verteidigten.
Chen war der Appetit vergangen; geistesabwesend aß und trank er sich durch das Bankett, seine Äußerungen schienen von einer CD zu kommen, die irgendwo in seinem Kopf abgespielt wurde.
Er verabschiedete sich so bald als möglich mit einer Entschuldigung von seinem Gastgeber.
Das Erholungszentrum war selbst wie ein kleiner Park angelegt. Die traditionellen Pavillons und modernen Gebäude bildeten eine reizvolle architektonische Mischung aus Ost und West. Chen folgte einem gepflasterten Weg, ohne Ziel oder Richtung zu kennen, vorbei an einem von Menschenhand geschaffenen Wasserfall und Grotten aus Schmuckfelsen, und befand sich schließlich am Fuß eines grünen Hügels. Obgleich er diesmal aus der entgegengesetzten Richtung gekommen war, musste hier ganz in der Nähe das kleine Pförtchen sein. Wie stets war er völlig allein. Er setzte sich auf einen Felsen und ließ den Blick über das Wasser schweifen.
Es ist nicht der See, sondern der Augenblick / der See, der in deine Augen strömt …
Wieder war er in Gedanken bei ihr. Erst jetzt hatte er begriffen, welch harten Kampf sie mit ihren Bemühungen zum Schutz der Umwelt auf sich genommen hatte.
Die Leute am Banketttisch und viele andere mussten wie Liu eine Menge Druck auf sie ausüben …
Das Wasser, dieser Meister der Täuschung,
ergeht sich strömend
in wisperndem Ehrgeiz und Eitelkeiten.
Wenn du dich in Träumereien
von einem grünen, windumtosten Riff verlierst,
läuft das Wasser plötzlich weg und lässt dich allein.
Der See hat so viele Ausflüsse,
einmal verwirrt, findest du nicht mehr zurück.
Weißt du denn nach so vielen Jahren
noch immer nicht, wohin das Wasser fließt?
Vergiss nicht das, was wirklich zählt
im kleinen blauen Reagenzglas.
Man drängt dir Tugenden auf, zwingt dich
durch die vom verbotenen Baum geschüttelten Tränen.
Die Sirenen, von Ferne angereist,
rufen angstvoll durch den Nebel …
Wieder überraschte ihn die Stimme, die aus diesen Zeilen sprach. Es war eine machtvolle, mit Autorität ausgestattete Stimme wie die von Liu und seinen Leuten, und sie richtete sich jetzt an Shanshan – dennoch schien der Text weit über Wuxi und den Taihu hinauszuweisen.
9
WIE SCHON SO oft schlug Chen das malerische Sträßchen ein, statt in den Park zu gehen.
Manchmal brachte das Gehen seine Gedanken in Bewegung, besonders wenn er ungestört war wie hier.
Auch an diesem Nachmittag blieb es ruhig auf der Straße, doch zum ersten Mal entdeckte er etwas, was ihm bisher entgangen war: An der Kreuzung vor dem kleinen Platz stand ein Wegweiser zur Parteiakademie der Provinz Zhejiang. Diese Fortbildungsstätte lag zwar nicht unmittelbar im Park, war aber dennoch Teil dieser herrlichen Landschaft. Ein schwarzer Mercedes
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