Tödliches Wasser: Roman (German Edition)
Lage war, sein Volk zu führen.«
»Nun, wenn er das heute täte, käme es einem Selbstmordversuch gleich.«
»Iss, trink, und lass Mao in Ruhe«, warf Li ein. »Immerhin war unser See unter Mao noch sauber. Und es gab nicht so viele skrupellose Fabriken, die ihren Dreck hineingeschüttet haben. Inzwischen haben Wölfe und Schakale die Herrschaft im Land übernommen.«
»Du bist ja bloß beleidigt, weil deine Firma im Konkurrenzkampf mit der von Liu den Kürzeren gezogen hat. So ist das nun mal in unserer schönen neuen Welt.«
»Nein, aber so hätte das nicht laufen dürfen. Unsere Fabrik hat sich an die Umweltschutzauflagen gehalten – wir hatten, wenn du so willst, noch ein Gewissen. Aber was ist ein Pfund Gewissen auf dem heutigen Markt schon wert? Liu hatte keins, dafür machte er umso mehr Profit.«
»Entschuldigung«, schaltete Chen sich ein. »Ich habe gehört, dass in einer Chemiefabrik kürzlich jemand mit dem Namen Liu ermordet wurde. Ist das vielleicht der, von dem Sie reden?«
»Genau. Ein klarer Fall von Vergeltung. Echtes karma .« Li goss sich eine weitere Schale ein und schraubte anschließend den Verschluss fest auf die Flasche. Gleich darauf wurde sie von Zhang wieder aufgeschraubt.
»Wenn du mich fragst, liegt ein Fluch auf dem Chemiewerk«, beharrte Li.
»Wieso das?«
»Vor einigen Monaten sind Tausende von Fischen in den Gewässern unweit der Fabrik verendet. Ihre weißen Bäuche starrten in die schwarze Nacht wie vorwurfsvolle Augen. Und das alles nur wegen des verdammten Gifts. Die Chemiefabrik Nr. 1 ist einer der größten Industriebetriebe in Wuxi und eine der größten Dreckschleudern der Stadt. Im Buddhismus zählt jedes Leben, egal ob es einer Ameise oder einem Fisch gehört. Und wer unmenschlich handelt, entgeht der Vergeltung nicht. Keiner.«
»Meinen Sie, Lius Tod hat etwas damit zu tun?«
»Ob Sie’s glauben oder nicht, ich habe Liu vor ein paar Monaten abends mit seiner kleinen Sekretärin am See entlangspazieren sehen. Gar nicht weit von hier. Und plötzlich hat sie sich in einen weißen Fuchsgeist verwandelt. Man weiß ja, was das für den Mann bedeutet, wenn er sich von so einer verzaubern lässt«, erklärte Li unheilvoll.
»Lius kleine Sekretärin?« Chen stellte sich dumm.
»Sie heißt Mi. Eine schamlose Hure, die sich ihre Sekretärinnenstelle im Bett verdient hat.«
»Also wirklich, die Geschichte mit dem Fuchsgeist nehm’ ich dir nicht ab«, sagte Zhang, der Chens Interesse bemerkt hatte und schon wieder nach der Flasche schielte. »Aber mit der schamlosen Hure hast du recht. Ich hab da vor einer Woche auch was bemerkt.«
»Vor einer Woche?« Chen wartete, dass Zhang fortfuhr, doch es kam nichts. Der dünne Mann starrte gedankenverloren in seine leere Schale.
Auch diese Flasche Erguotou war nun leer. Chen fragte sich, für wen dieser Zhang ihn hielt. Vermutlich für einen Lüstling, der sich an Geschichten über Huren und kleine Sekretärinnen aufgeilte. Aber das war dem Oberinspektor egal, er bestellte eine weitere Flasche.
»Was haben Sie denn bemerkt, Zhang«, half Chen ihm auf die Sprünge, nachdem der Kellner den Schnaps auf den Tisch gestellt hatte.
»Da war sie mit einem anderen Mann unterwegs – wesentlich jünger als Liu. Sie gingen Arm in Arm und turtelten die ganze Zeit herum.« Zhang nahm einen extratiefen Schluck aus seiner gutgefüllten Schale. »Im Schutz der Dunkelheit natürlich. Das war so gegen Mitternacht.«
»Wissen Sie noch, an welchem Tag das war?«
»An das genaue Datum erinnere ich mich nicht, aber es muss vor etwa einer Woche gewesen sein.« Dann fügte er nickend hinzu: »Ja, vor etwas mehr als einer Woche.«
Vor dem Mord also, rechnete Chen rasch nach und hob dann sein Glas, nur um es gleich wieder hinzustellen.
»Ist ja auch kaum verwunderlich«, erläuterte Zhang, »wo sie Anfang zwanzig ist und Liu über fünfzig. Wie kann er sie da befriedigen? Hätte mich echt gewundert, wenn sie sich nicht heimlich einen jungen Kerl geangelt hätte.«
»Geschieht diesem Liu recht. Sein Herz ist im Rauch des Geldes geräuchert wie dieser Fischkopf hier.«
»Nein, dessen Herz haben längst die Hunde gefressen.«
»Noch etwas anderes«, hakte Chen wieder ein. »Als Auswärtiger frage ich mich natürlich, warum nichts gegen die Verschmutzung unternommen wird. Gestern war ich in einem kleinen Lokal nicht weit von hier. Ich glaube, es heißt ›Onkel Wang‹. Da habe ich gehört, dass es eine junge Umweltingenieurin gibt, die sich
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