Tödliches Wasser: Roman (German Edition)
China veränderte sich tatsächlich rasend schnell. Aus azurblauem Ozean waren Maulbeerfelder geworden, wie der Alte Jäger zu sagen pflegte.
»Ich kann mich nicht mehr erinnern, was für ein Geschäft früher in dem Gebäude des Hotels war«, sagte Peiqin, die seinem Blick gefolgt war.
»Ich glaube, ein Schreibwarenladen«, sagte er.
Abgesehen von der Szene vor dem Hotel, war dies ein durchaus angenehmer Ort, um entspannt eine Tasse Tee zu trinken und sich umzusehen.
»›Sheng’s Restaurant‹ ist das Einzige, das noch so aussieht wie früher. Zumindest von außen.«
»Die Nanjing Lu ist zwar nicht weiterhin die wichtigste Einkaufsstraße, aber unsere Stadt ist jung – überall sind junge Leute unterwegs, ständig entstehen neue Läden, Hotels und Restaurants.«
Jetzt war es Yu, der ihrem Blick zu einem Hotel unweit der Fujian Lu folgte. Es war ein Fünfsternehaus im europäischen Stil. Er musste schon mehrfach daran vorbeigekommen sein, hatte es aber nie beachtet. Eben kam einer dieser Neureichen durch die Drehtür und warf eine Kusshand zurück in die Hotellobby, wobei sein protziger Diamantring aufblitzte.
»Ach, übrigens, wegen dieser Börsengeschichte«, sagte Peiqin in einer plötzlichen Eingebung. »Wir haben ja keine Geschäftsleute unter unseren Bekannten, aber Chen. Erinnerst du dich noch an diesen Gu, der mit der New World Group an die Börse ging?«
»Stimmt. Ich bin ihm im Rahmen einer Ermittlung ein paarmal begegnet. Vielleicht kann er uns auch diesmal helfen, wenn ich ihm erkläre, worum es geht.«
Yu wollte schon sein Handy zücken, als Peiqin ihn am Ellbogen fasste.
»Warte. Da ist er – sie kommen.«
Fu trat zusammen mit der jungen Frau aus dem Hotel. Doch anstatt sich zu verabschieden, schlenderten sie Arm in Arm davon und verschwanden gleich darauf im Yongan-Kaufhaus, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts »Sincere« geheißen hatte und nun ebenfalls in neuem Glanz erstrahlte.
Ein älterer Afrikaner trat auf einen weißen Balkon im dritten Stock des Hauses und begann Trompete zu spielen, eine Szene wie aus einem alten Film. Sofort sammelten sich Schaulustige auf der Straße, darunter auch Fu und seine Freundin.
Da er sein Handy ohnehin griffbereit hatte, machte Yu gleich ein Foto von den beiden. Sie bemerkten es nicht. Aber selbst wenn man ihn beim Fotografieren beobachtet hätte, so war das für einen Touristen auf der Nanjing Lu etwas völlig Normales.
Chen hatte ihn zwar nicht darum gebeten, doch es konnte nicht schaden. Außerdem wäre es gut, ein paar Aufnahmen von der Gegend hier zu haben. Die Nanjing Lu veränderte sich ständig, und in einigen Jahren würden Yu und Peiqin den Platz vermutlich nicht mehr wiedererkennen.
Die beiden unter dem Balkon verabschiedeten sich jetzt mit mehreren innigen Umarmungen voneinander.
»Wir sollten uns besser auch trennen.« Peiqin sah ihn fragend an. »Falls du möchtest, dass ich der Frau folge.«
»Das wird nicht nötig sein«, sagte Yu.
Vermutlich war diese Hotelepisode, so skurril sie auch war, für Chens Ermittlungen kaum von Belang. Er konnte das später immer noch mit Wei, dem Nachbarschaftspolizisten, abklären.
»Bist du sicher?«
»Ja. Lass uns einen Einkaufsbummel machen, Peiqin. Schließlich ist Samstag. Vorher probiere ich es noch ein letztes Mal bei dieser Frau Bai.«
14
ALS SHANSHAN AM Samstagmorgen erwachte, zuckten ihr gleich beide Augenlider. Das nächste unheilverkündende Zeichen, dachte sie, während sie sich an eine erschreckende Traumszene erinnerte. Dann tastete sie unter dem Kopfkissen nach ihrer Armbanduhr.
Noch vor acht Uhr. Sie blieb liegen und versuchte, sich die Ereignisse der vergangenen Tage noch einmal zu vergegenwärtigen.
Als ihr Blick auf die Untertasse fiel, die sie während Chens Überraschungsbesuch am gestrigen Abend als Aschenbecher benutzt hatten, tippte sie geistesabwesend mit dem Finger auf die Bettkante, wie er es mit seiner Zigarette getan hatte.
Plötzlich begann das grellrote Handy zu vibrieren, als sei es vom Morgenlicht, das durch ihr winziges Fenster drang, aktiviert worden.
»Guten Morgen, Shanshan. Ich bin mit dem Gedanken an dich erwacht.«
»Danke, dass du mich mit dieser großartigen Neuigkeit nun ebenfalls geweckt hast«, erwiderte sie und rieb sich die Augen. »War nur ein Scherz.«
»Ich stehe hier mit meiner ersten Tasse Kaffee am Fenster. Der Blick ist phantastisch. Ich wünschte, du könntest ihn ebenfalls genießen. Lehne dich nicht allein über die Brüstung
Weitere Kostenlose Bücher