Tödliches Wasser: Roman (German Edition)
einem Impuls folgend, etwas, was sie selbst erstaunte. Sie setzte sich auf einen über das Ufer ragenden Felsen, zog die Sandalen aus und ließ die Füße ins Wasser baumeln.
Die erfrischende Kälte brachte Erinnerungsbilder aus ihrer Kindheit in Anhui zurück. Als kleines Dorfmädchen hatte sie oft allein an dem gurgelnden Bach gesessen, der hinter dem Bauernhaus vorbeifloss. Die Füße in der kristallklaren Strömung, hatte sie sich in eine ferne, hoffnungsvolle Zukunft geträumt. Die Zeit war zerronnen wie das Wasser zwischen ihren Zehen: Erst Grundschule, dann weiterführende Schule, dann Studium, und als man ihr die Stelle in der Chemiefabrik in Wuxi zuwies, hatte sie einen Moment geglaubt, dieses andere Leben fern der Heimat sei Wirklichkeit geworden. Doch schon bald hatte sich alles verändert.
Dann fiel ihr ein, dass sie vor einigen Tagen schon einmal spontan die Füße ins Wasser gehängt hatte, auf dem Sampan, mit Chen …
Sie war jetzt abgekühlt genug, um wieder klar zu denken. Wenn jemand ihr in dieser Situation helfen konnte, dann war es Chen. Selbst die Innere Sicherheit sprach mit widerwilliger Anerkennung von diesem Jemand. Sie nahm die Füße aus dem Wasser und zog ihre Sandalen an. Eine Welle hoffnungsvoller Erregung überkam sie.
Er war völlig überraschend in ihr Leben getreten, aber da sie sich gerade erst von einem Mann getrennt hatte, der ihr nichts als Probleme gebracht hatte, war sie nicht auf eine neue Beziehung aus. Schon gar nicht in dieser verfahrenen Situation, in der sie sich derzeit befand. Dennoch war ihr bewusst, dass sie sich seit ihrer ersten Begegnung bei Onkel Wang zu diesem Mann hingezogen fühlte. Er hingegen hatte ihr offen seine Zuneigung gezeigt und sie rückhaltlos unterstützt.
Chens Analyse ihrer Lage leuchtete ihr immer mehr ein: Ungewollt saß sie mit Jiang in einem Boot, und wenn er unterging, würde sie mitgerissen werden. Wenn man ihn verurteilte, würde sie als seine Komplizin ebenfalls angeklagt und bestraft werden.
Dennoch war sie überzeugt davon, dass Jiang den Mord nicht begangen hatte. Sie konnte sich nicht einmal vorstellen, dass er Liu in der Firma aufgesucht hatte. Nicht Anfang März, nicht, nachdem er versprochen hatte, es nicht zu tun.
Doch was sie glaubte, spielte für die Ermittlungen keine Rolle. Sie hatte ja keine Beweise.
Plötzlich kam ihr wie das Kaninchen aus dem hohen Gras eine Idee, die sie auf dem Absatz umkehren und in Richtung Chemiefabrik gehen ließ.
Den ganzen Weg über dachte sie angestrengt nach.
Der Wachmann am Eingang war erstaunt, sie zu sehen, stellte aber keine Fragen.
»Wir haben Wochenende, Shanshan. Aber Sie arbeiten ja immer so viel.«
»Ich muss einen Versuch überprüfen. Wird nicht lange dauern«, log sie rasch.
Als Ingenieur hatte man immer Gründe, auch am Wochenende ins Labor zu gehen.
Im Büro blätterte sie den Kalender auf ihrem Schreibtisch durch. Einige Daten waren rot angestrichen oder mit hastigen Bleistifteintragungen versehen, die wohl nur sie selbst entziffern konnte. Noch konnte sie sich nicht sicher sein.
Sie loggte sich in die Website der Firma ein und überprüfte die Ereignisse, die dort für den Monat März verzeichnet waren.
Mit einem Seufzer der Erleichterung stellte sie fest, dass sie für Anfang März geplant hatte, Liu eine neue, kostensparende Methode der Abwasseraufbereitung vorzustellen. Doch Liu war um diese Zeit nicht in der Fabrik, sondern bei einer Konferenz in Nanjing gewesen. Ursprünglich hatte sie die Präsentation für den 7. März eingetragen gehabt, doch dann mit dem Vermerk »Liu weg bis 8.« wieder durchgestrichen. Liu war erst spät am 8. März zurückgekehrt, was durch die offizielle Firmenwebsite bestätigt wurde.
Es konnte also unmöglich am 7. März, dem Tag vor dem Internationalen Frauentag, zu einer Konfrontation zwischen Jiang und Liu in dessen Büro gekommen sein. Ebenso wenig konnte Mi sie vom Vorzimmer aus mit angehört haben.
Als Shanshan die Fabrik verließ, dämmerte es bereits.
Der Fußweg von der Fabrik zum Wohnheim war weit, doch sie achtete nicht darauf, so sehr war sie in Gedanken vertieft.
Zu Hause angekommen, spürte sie die Erschöpfung. Sie schloss die Tür hinter sich ab, zog die Vorhänge vor und warf sich aufs Bett.
Nie zuvor hatte sie sich so hilflos gefühlt. Sie schlug die verschossene Überdecke beiseite und versuchte, die wirren Gedanken zu vertreiben, die auf sie einstürzten. Verzweifelt starrte sie an die Decke und wartete darauf,
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