Tödliches Wasser: Roman (German Edition)
ihre Hand.
Überrascht lehnte sie sich gegen ihn; ihre Hand in der seinen schmiegte sie den Kopf an seine Schulter. Er spürte ihren warmen Atem auf seinem Gesicht.
Dicht beieinander standen sie am Fenster. Hinter ihr schimmerte der See friedlich im hellen Mondlicht. Am tiefblauen Abendhimmel ballten sich Wolken zusammen.
Sie blickte mit strahlenden Augen zu ihm auf. Sein Griff um ihre weiche, schweißfeuchte Hand wurde fester, während die schlanken Finger ihrer freien Hand leicht wie eine Seebrise über sein Gesicht strichen.
Zum Fenster, komm! Sanft ist die Luft der Nacht! … Drum lass, mein Lieb, uns beide treu / zusammenstehn …
Ein anderer Dichter, in einem fernen Land, hatte ebenfalls nachts in Gegenwart eines geliebten Menschen aus dem Fenster geschaut und sich nach den Beweggründen seiner Gefühle gefragt:
denn dieser Weltenraum,
der aufzutun sich scheint wie Land im Traum,
so vielgestalt, so schön, so neu,
hat wirklich weder Freud, noch Lieb, noch Lichterpracht,
noch Sicherheit, noch Ruh, noch Schmerzerlass …
Es war ein schwermütiges Liebesgedicht, das die Liebe als einzigen Ausweg sah aus einer Welt des menschlichen Leids und der ew’gen Trauertöne – und auch das nur für Augenblicke. Doch die Welt, auf die sie schauten, war noch schlimmer dran, in all ihrer Schönheit war sie hoffnungslos verseucht. Ebenso wie Luft und Nahrungsmittel. Hier standen sie auf dem dunklen Pass, / wo, voll verwirrten Rufs von Flucht und Schlacht, / sich Heere blind bekriegen in der Nacht.
Dennoch konnten sie treu zusammenstehen.
Seit sie heute Abend gekommen war, erfüllten ihn unbestimmte Erwartungen, doch es hatte so viel zu besprechen gegeben, über Mord, Verschwörung und Politik. Nun jedoch, in dieser unerwarteten Stille, traf sie beide die plötzliche Erkenntnis von der Bedeutung dieser Nacht.
Eben war Shanshan ihm noch abwesend vorgekommen, jetzt spürte er ihre intensive Nähe. Selbst das Mondlicht schien sich ganz auf ihr Gesicht zu konzentrieren. Er legte den Ordner auf das Fenstersims und berührte ihre Lippen. Durch seine Fingerspitzen hindurch flüsterte sie seinen Namen.
»Nun«, sagte er.
»Ich glaube, wir haben genug über andere Leute und deren Angelegenheiten geredet.« Sie drehte sich um und zog ihn mit sich.
Zu ihrer Rechten stand die Schlafzimmertür offen wie eine Einladung.
17
GEGEN MITTERNACHT erwachte er.
Sie schlief neben ihm, den Kopf an seine Schulter geschmiegt, die Beine mit den seinen verschlungen.
Durch einen Schlitz zwischen den Gardinen fiel Mondlicht herein und ließ ihren nackten Körper in porzellanenem Glanz erstrahlen. Schweißtropfen trockneten in der Vertiefung zwischen ihren Brüsten, nur spärlich bedeckt vom zerwühlten Bettzeug.
Vor dem Fenster flackerte in der Ferne ein Lichtschein, der sich über den nächtlichen See entfernte. Die Sterne standen hoch und hell am Himmel und flüsterten wie durch einen verlorenen Traum zu ihm herab. Lautlos glitt ein Boot vorbei. Das Ticken des elektrischen Weckers maß die Zeit in unsichtbaren Sekunden.
Nun war es also doch geschehen. Er konnte es immer noch nicht fassen. Es kam ihm vor, als betrachte er im Rückblick, was einem anderen, jüngeren Mann widerfahren war. Unwillkürlich musste er sie ansehen; das schwarze Haar lag über das Kissen gebreitet, ihr Gesicht so friedvoll und von Leidenschaft erschöpft von dem einen vollkommenen Moment, als Wolken sich ballten und Regen fiel.
Im zweiten Jahrhundert vor Christus hatte Song Yu, der gefeierte Dichter aus dem Staat Chu, einen Hymnus auf die Liebe zwischen König Chu Xiang und der Göttin des Berges Wu verfasst. Beim Abschied versprach sie ihrem Liebhaber, in Form von Wolken und Regen zu ihm zu kommen, ein atemberaubendes Bild, das seither in der klassischen chinesischen Literatur als Euphemismus für sexuelle Liebe galt.
Die Erinnerung an die Nacht kehrte in all ihren dunklen, ekstatischen Einzelheiten zu Chen zurück.
Die Intensität ihrer Leidenschaft war durch das Verzweiflungsvolle ihrer Situation noch verstärkt worden. Niemand wusste, was die Zukunft bringen würde – für sie, für ihn, für die Welt. Es gab nichts, woran sie sich festhalten konnten, außer dem Augenblick des Erlebens, Verlierens und Wiederfindens in der Gegenwart des anderen.
Sie hatte über ihm gelegen wie eine weiße Wolke, in steter träger Bewegung, weich und fest zugleich, körperlos schwebend und doch zupackend, klammernd, pressend und erschaudernd, als sie schließlich
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