Tödliches Wasser: Roman (German Edition)
Szene gegen die andere ab, sprang von einer Strophe in die nächste und scherte sich dabei wenig um die Gesetze des Satzbaus. Schließlich war auch die Realität, die die Worte widerspiegelten, ungeordnet.
Die Zeilen kamen vom See herein und strömten durch ihn hindurch. Er war nur zufällig am rechten Ort, um sie in seinen Laptop zu bannen. Die Stille, die ihn umgab, war durchdrungen vom leisen Duft von Shanshans nacktem Körper. Inmitten der sich auf den Bildschirm ergießenden Bilderflut hielt er inne, um sie zu betrachten. Er konnte sich kaum noch vergegenwärtigen, wie er sie bei ihrer ersten Begegnung vor nur einer Woche in dem kleinen Lokal gesehen hatte.
Er versuchte, sich den harten Kampf vorzustellen, den sie für den Umweltschutz geführt hatte, Tag für Tag allein mit dem See.
Und was hatte er getan? Für einen erfolgreichen Parteigenossen und Polizeibeamten, der jetzt auch noch die Privilegien eines »ranghohen Kaders« genießen durfte, hatte er sich herzlich wenig um den Umweltschutz gekümmert. Dazu war er als Oberinspektor und aufstrebender Kader einfach zu beschäftigt gewesen.
Er strich sich eine schweißnasse Haarsträhne aus der Stirn und wünschte, er wäre dieser Frau früher begegnet. Dann hätte er über seinen engen Berufshorizont hinaus von ihr lernen können. Das Gespräch, das er mit ihr über den See geführt hatte, würde dem Gedicht eine intime Note geben.
Gestern Nacht kam wieder ein Wasservogel
in meinen Traum geflattert
wie ein Brief …
Man meint, das Drehen des Schlüssels im Schloss
zu hören, bevor die Tür sich öffnet
und uns blutarme Sterne zeigt,
verloren im Unrat des Sees …
Er scrollte zum Anfang des Gedichts zurück und gab ihm versuchsweise den Titel »Weine nicht, Taihu«. Es war noch längst nicht fertig, aber er wusste auch, dass er als Polizist einen ereignisreichen Tag vor sich hatte. Also klappte er seinen Laptop zu, nahm ihre Hand und segelte in den Schlaf hinüber.
18
ERST AM SONNTAGMORGEN erhielt Yu den Rückruf von Bai, auf deren Anrufbeantworter er eine Nachricht hinterlassen hatte.
»Ich weiß, dass Sie eine gute Freundin von Frau Liu sind«, wiederholte er den Wortlaut seiner Nachricht.
»Ich würde ja gern mit Ihnen sprechen, Herr Yu, aber ich bin auf dem Weg in die Kirche, und heute Nachmittag fahre ich nach Nanjing«, sagte Bai. »Wenn es dringend ist, könnten wir uns nach dem Gottesdienst treffen. Er findet in der Moore Memorial Church statt, nicht weit vom Pingan-Kino. Von dort gehe ich dann direkt zum Bahnhof.«
Also begaben sich Yu und Peiqin an diesem Sonntagmorgen zum Gottesdienst in die Kirche aus dem späten 19. Jahrhundert, die nach dem amerikanischen Missionar und Stifter benannt war.
Das neogotische Gebäude aus rotem Backstein stand an der Ecke Xizang Lu, auf seinem Glockenturm prangte ein riesiges Kreuz. Vermutlich war es zu seiner Zeit eine bedeutende Sehenswürdigkeit gewesen, doch wie das »Seventh Heaven« und andere historische Bauten war es von den ringsum emporstrebenden Hochhäusern seiner herausragenden Stellung beraubt worden. Immerhin hatte man die Kirche in den letzten Jahren gründlich renoviert.
Der Gottesdienst hatte gerade begonnen, aber draußen standen noch immer zahlreiche Kirchgänger plaudernd beieinander; es waren mehr, als Yu und Peiqin erwartet hatten.
»In dem Kino bin ich ein paarmal gewesen«, bemerkte Peiqin, »aber in die Kirche habe ich nie einen Fuß gesetzt.«
»Ich auch nicht.«
»Besser, man glaubt an etwas, als man hat nichts, woran man glauben kann, oder?«
»Und woran glaubst du, Peiqin?«
»An nichts Großartiges, aber ich glaube, dass es unrecht ist, Menschen zu töten, deshalb bin ich heute mitgekommen.«
»Ich danke dir.«
Sie betraten den Kirchenraum und waren beeindruckt von den viereckigen Säulen des Schiffs. Einem Prospekt, den sie im Vorraum mitgenommen hatten, war zu entnehmen, dass es rund tausend Gläubige fasste.
Da es keinen freien Platz mehr gab, blieben sie hinten stehen.
Zu ihrer Überraschung waren auch viele Jugendliche anwesend. Gleich neben ihnen betete andächtig ein modisch gekleidetes junges Mädchen im tief ausgeschnittenen gelben Sommerkleid. Den Kopf mit dem blondierten Haar hatte sie demütig gesenkt, in der Hand hielt sie eine Bibel.
Yu und Peiqin fassten sich an den Händen und warteten geduldig das Ende des Gottesdienstes ab.
Sobald die Menschen aus der Kirche strömten, wählte Yu Bais Nummer auf dem Handy.
»Wer ist da?«,
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