Tödliches Wasser: Roman (German Edition)
meldete sie sich.
»Ich bin’s, Yu. Wir hatten uns heute Morgen verabredet. Ich warte neben dem Eingang auf Sie.«
Kurz darauf kam eine Frau mittleren Alters mit fragendem Blick auf ihn zu. Yu schätzte sie auf Ende vierzig oder Anfang fünfzig. Sie war untersetzt, hatte ein rundes Gesicht und trug eine Goldrandbrille.
Die Leute standen in Grüppchen und redeten oder diskutierten laut. Es konnten ebenso Kirchgänger wie Kinobesucher sein. Manche hielten Eintrittskarten in der Hand. Auf der Xizang Lu rauschte ununterbrochen der Verkehr vorbei.
»Kein guter Platz, um sich zu unterhalten. Gehen wir doch hinüber in den Volkspark«, schlug Peiqin vor.
Durch eine Unterführung gelangten sie in den Park, der Peiqin viel kleiner vorkam, als sie ihn in Erinnerung hatte. Er war auf dem Gelände der im 19. Jahrhundert von den Engländern erbauten Rennbahn angelegt worden. Damals war es in Anbetracht der zentralen Lage ein erstaunlich großer Park gewesen, doch in den letzten Jahren hatten neue Bauprojekte immer wieder Teile davon beansprucht.
Sie fanden einen Steintisch mit Hockern im hinteren Teil des Parks, von wo man den Volksplatz überblicken konnte.
»Ich bin ganz durcheinander«, begann Bai, kaum dass sie sich gesetzt hatten. »Ist Frau Liu denn mit Ihnen beiden bekannt?«
»Nein, aber ein Freund von uns in Wuxi versucht, ihr zu helfen«, erklärte Yu.
»Aber ich verstehe nicht, was ich dabei tun kann?«, fragte Bai. »Ich meine, wie ich ihr helfen soll. Den Mord an Liu kann niemand ungeschehen machen.«
»Nun, einige Leute versuchen, sie als Tatverdächtige hinzustellen.«
»Wie bitte? Das geht ja nun wirklich zu weit! Schließlich hat sie schon den Verlust ihres Mannes zu verkraften.«
»Die Polizei in Wuxi hat Sie ja sicher bereits wegen des Alibis befragt«, fuhr Yu fort. »Allerdings gibt es da aus Sicht der Beamten noch einige Ungereimtheiten. In der Nacht, als Liu in Wuxi ermordet wurde, war seine Frau nicht zu Hause, sondern bei Ihnen in Shanghai. War das ein Zufall? Außerdem fragen sie sich, warum Frau Liu so oft nach Shanghai gefahren ist – ganz gleich, ob unter der Woche oder an den Wochenenden. So viel Aufwand für eine Partie Mah-Jongg? Es gab wohl auch Anzeichen dafür, dass es in der Ehe schon seit geraumer Zeit kriselte.«
»Da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen, Herr Yu«, erwiderte sie mit wachsendem Argwohn. »Und ich sehe auch nicht, was Sie oder Ihr Freund in dieser Angelegenheit tun könnten.«
Yu holte seine Dienstmarke heraus. An diesem Punkt musste er sich zu erkennen geben, andernfalls würde er nichts erfahren. Zusätzlich reichte er ihr eine von Chens Visitenkarten.
»Oh, der Oberinspektor Chen Cao vom Shanghaier Präsidium! Ich glaube, von dem habe ich schon in der Zeitung gelesen.«
»Ja, er ist mein Partner und hält sich derzeit in Wuxi auf. Nicht in offizieller Mission, sondern um Frau Liu zu helfen. Daher hat er mich gebeten, Kontakt mit Ihnen aufzunehmen.«
»Jetzt verstehe ich, Hauptwachtmeister Yu.«
»Erzählen Sie uns bitte, was Sie über Frau Liu wissen«, sagte Yu. »Unser Gespräch ist inoffizieller Natur, wir sprechen mit Ihnen als einer Freundin von Frau Liu. Indem Sie uns helfen, helfen Sie ihr. Wir handeln also im gegenseitigen Interesse. Wenn die Kollegen die Sache erst mal in die Hand nehmen, sieht das womöglich anders aus.«
»Danke für Ihre Offenheit«, sagte Bai und begann dann zögernd mit ihrem Bericht. »Wir sind Freundinnen seit der Oberschule. Natürlich will ich ihr helfen, allerdings werde ich nicht all Ihre Fragen beantworten können. Was die Ausflüge nach Shanghai betrifft, vor allem die an den Wochenenden, so ist die Antwort einfach. Sie kam her, um den Gottesdienst zu besuchen.«
»Gibt es denn in Wuxi keine Kirchen?«
»Gemeindemitglieder sind wie Brüder und Schwestern, wir kennen uns seit langem. Und Wuxi ist gerade mal eine Eisenbahnstunde entfernt. Ich wohne in Minhang. Von dort brauche ich fast genauso lange wie sie aus Wuxi. Aber der entscheidende Grund ist, dass sie als Frau eines bedeutenden Parteikaders nicht als Kirchgängerin gelten wollte. Das hätte der Karriere ihres Mannes geschadet.«
»Da mögen Sie recht haben«, mischte Peiqin sich ein. »Aber was ist mit Mah-Jongg?«
»Das spielt man am besten immer mit den gleichen Partnern, wissen Sie. Am Mah-Jongg-Tisch wird viel geredet. Für sie bedeuteten diese Zusammenkünfte mehr als nur ein Spiel. Sie wollte nicht die ganze Zeit allein in diesem großen Haus sitzen
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