Tödliches Wasser: Roman (German Edition)
veröffentlichen«, insistierte sie. »Umweltschutz ist für viele Chinesen kein Thema – entweder ist ihnen die Sache zu technisch oder hinderlich bei ihrem materialistischen Streben. Aber dein Gedicht werden sie lesen, und es wird sie zum Nachdenken anregen.«
»Das hoffe ich«, erwiderte er. »Übrigens habe ich heute Nachmittag eine Nachricht auf deinem Anrufbeantworter hinterlassen.«
»Ja, tut mir leid. Den habe ich erst vor einer Stunde abgehört. Ich hatte einen ziemlich scheußlichen Tag.«
»Erzähl mir davon.« Er holte eine Dose Cola aus dem Kühlschrank und reichte sie ihr.
»Ein echt scheußlicher Tag!«, wiederholte sie und starrte auf die Dose in ihrer Hand. »Aber hin und wieder möchte man vergessen und etwas völlig Verrücktes tun. Geht dir das nicht auch so?«
»Ja, ich kenne das«, beeilte er sich zu sagen und fragte sich, was sie mit »hin und wieder« meinte.
Dann berichte sie ihm, was ihr zugestoßen war.
Chen war von dieser Aktion der Inneren Sicherheit kaum überrascht. Aber er registrierte, dass sie erstmals erwähnte, eine Beziehung mit Jiang gehabt zu haben. Chen hätte sich das natürlich längst denken können, doch die Menschen sehen eben nur, was sie sehen wollen. Als Polizist hätte er es allerdings besser wissen müssen.
War es möglich, dass sie ihn nur um Jiangs willen besucht hatte? Chen unterdrückte diesen Gedanken sofort wieder.
Sie hatte ja zugleich erklärt, dass sie sich Sorgen um ihn machte, und genau erzählt, was die Leute von der Inneren Sicherheit über diesen »Jemand hinter den Kulissen« gesagt hatten. Sie konnte also ebenso gut um seinetwillen gekommen sein.
»Pass auf dich auf, Chen«, schloss sie ihren Bericht.
»Um mich brauchst du nicht besorgt zu sein. So leicht können die mir nichts anhaben.«
»Aber ich habe solche Angst um dich. Den ganzen Weg hierher habe ich mich umgeschaut, ob mir jemand folgt.« Ihre Begegnung mit dem Geheimdienst hatte sie sichtlich erschüttert. »In deiner Nachricht hast du gefragt, ob mir noch etwas aufgefallen sei in der Firma, und nach einigem Überlegen fiel mir etwas ein. Aber ich bin mir nicht ganz sicher.«
»Erzähl’s mir.«
»Liu ist tot. Ich möchte nicht schlecht über Verstorbene reden.«
»Das kann ich verstehen«, erwiderte er. »Aber wenn das Leben eines anderen auf dem Spiel steht, eines vermutlich Unschuldigen …«
»Und als Frau widerstrebt es mir, eine andere hinter ihrem Rücken anzuschwärzen.«
»Wen meinst du damit?«
»Mi, seine kleine Sekretärin. Es ist ein offenes Geheimnis, dass Liu in seinem Privatbüro mit ihr geschlafen hat. Aber als kleine Sekretärin hat sie nie bis spätabends im Firmenbüro gearbeitet, das haben mir ihre Kolleginnen bestätigt. Nun behauptet sie, ausgerechnet an jenem Abend lange geblieben zu sein.«
»Eine gute Beobachtung, Shanshan. Aber Mi hat ein Alibi. Fu hat gesehen, dass sie bis spät gearbeitet hat. Wegen des Börsengangs gab es besonders viel zu tun.«
»Mag sein. Aber da ist noch etwas anderes, was ich überprüft habe. Das Büropersonal war mit dem Umstrukturierungsplan beschäftigt, der offenbar jedem Börsengang vorausgeht. Ich weiß nicht genau, wie diese Umstrukturierung aussehen wird, aber einige Mitarbeiter werden wohl gehen müssen. Wie du dir vorstellen kannst, gehöre ich zu denjenigen, die man bereits vorgewarnt hat.«
»Aha, das könnte wichtig sein«, sagte er. »Weißt du etwas darüber, welche Auswirkungen der Plan auf Mi haben wird?«
»Die fliegt bestimmt nicht raus. Sie wird ihre Stelle behalten und im Falle eines Börsengangs ihren Aktienanteil einkassieren, so viel ist sicher. Selbst jemand wie ich würde, vorausgesetzt, ich werde nicht gefeuert, ein paar hundert Aktien bekommen. Aber das ist natürlich gar nichts, verglichen mit den zwei bis drei Millionen Aktien, die Liu eingestrichen hätte. Die Höhe des Anteils wird durch die Position innerhalb des Betriebs bestimmt. Was Mi betrifft, so weiß natürlich keiner, was Liu ihr unter der Hand hätte zukommen lassen.« Hier machte Shanshan eine Pause und fuhr dann fort: »Aber zurück zu dem fraglichen Abend. Nach Aussage ihrer Kolleginnen war Mi nie an wichtigen Geschäftsentscheidungen beteiligt. Sie war lediglich seine kleine Sekretärin.«
»Aber jetzt, wo Fu das Büro leitet, wird sie vielleicht mehr Verantwortung übernehmen.«
»Schon möglich. Es war Fu, der sie befördert hat – ironischerweise schon wenige Tage nach Lius Tod.«
»Hat er diesen Schritt irgendwie
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