Tödliches Wasser: Roman (German Edition)
schon dagegen unternehmen? Ich hatte keine Lust, es meinem Vater zu erzählen. Er hätte mir womöglich nicht geglaubt, und außerdem hätte es einen riesigen Skandal gegeben. Der eigene Vater ein Hahnrei, das ist nichts, worauf man stolz sein könnte. Warum sollte ich Ihnen also etwas Falsches erzählen?«
»Das leuchtet ein.«
Der Oberinspektor blinzelte gegen die hellen Sonnenstrahlen, die plötzlich durch die großen Scheiben hereindrangen, und rekapitulierte rasch noch einmal all die Einzelinformationen, die er in den letzten Tagen zwar aufgenommen, aber nicht bewusst registriert hatte: Die beiden Trunkenbolde, die ihm von einem jungen Mann erzählten, den man des Nachts in Begleitung von Fuchsgeist Mi gesehen hatte; sein Partner Yu, der Zeuge eines Melodrams auf der Nanjing Lu geworden war …
Nun begannen sich diese Teile zusammenzufügen, und zwar in einer Weise, die er nie für möglich gehalten hätte.
»Haben Sie vielen Dank, Wenliang. Wir werden unser Bestes tun, um Ihrem Vater Gerechtigkeit …«
Er war mit seinem Satz noch nicht zu Ende, als Frau Liu mit saurer Miene ins Zimmer stürmte.
»Sie schon wieder, Herr Chen!«
»Ja, Frau Liu. Ich habe mich bestens mit Wenliang unterhalten. Und an Sie habe ich nur noch eine letzte Frage: Anfang März ist Ihr Mann einmal sehr spät aus Nanjing von einer Geschäftsreise zurückgekehrt. Hat er Sie da vielleicht aufgeweckt? Erinnern Sie sich daran?«
»Ja, das weiß ich noch. Er hatte dort eine Besprechung. Es regnete stark an jenem Abend. Er hat sich am Bahnhof ein Taxi genommen. Wieso?«
»Können Sie mir vielleicht auch das Datum nennen?«
»Es war im März, Anfang März glaube ich. Er entschuldigte sich, weil er mich aufgeweckt hatte, und sagte, er sei in Nanjing aufgehalten worden und habe den letzten Zug nach Wuxi gerade noch erwischt«, erzählte sie. »Ach ja, es war der Abend vor dem Frauentag. Das weiß ich noch, weil er mir ein Geschenk mitgebracht hat, das er mir am nächsten Tag überreichte.«
»Vielen Dank, Frau Liu. Das ist von großer Bedeutung für die Ermittlungen. Und auch Ihnen nochmals vielen Dank, Wenliang.« Chen verabschiedete sich rasch und ging.
21
AM FRÜHEN MONTAGMORGEN nahm ein völlig überraschter Polizeimeister Huang am Telefon die Instruktionen des Oberinspektors entgegen.
»Bringen Sie Mi zu mir ins Erholungsheim. Sofort. Sie brauchen ihr dafür keine Erklärung zu geben. Überlassen Sie das Reden mir, falls nötig, unterstützen Sie einfach meinen Kurs.«
Aber sie hatten doch schon im Firmenbüro mit Mi gesprochen. Warum jetzt im Erholungsheim? Chen hatte Lius kleine Sekretärin im Verlauf der gemeinsamen Ermittlungen zwar ein paarmal erwähnt, aber nie als Tatverdächtige. Vielleicht hatte es mit Frau Liu zu tun, überlegte Huang. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Mi noch mehr zu erzählen hatte. Sie wäre gewiss die Letzte, die Lius Witwe decken würde.
Außerdem bezweifelte Huang, dass Chen den Lauf der Dinge noch ändern konnte, wo die Innere Sicherheit jetzt grünes Licht aus Peking erhalten hatte, um Jiang festzunageln. Dennoch war er gespannt, ob der legendäre Oberinspektor in letzter Minute das Unmögliche nicht doch möglich machen konnte – ganz wie in den Kriminalromanen, die er übersetzte.
Also begab Huang sich unverzüglich zum Chemiewerk, wo Mi ihm bereits entgegenkam. Sie war auf dem Weg zu einer Besprechung in der Stadt. Sein Erscheinen überraschte sie, doch sie folgte ihm ohne Protest.
In kaum zehn Minuten waren sie am Tor des Erholungsheims. Der Wachmann winkte sie durch, nachdem er sich Huangs Dienstausweis hatte zeigen lassen.
Die freistehende weiße Villa thronte majestätisch auf der Anhöhe, der Zaun aus Edelstahl blitzte in der Morgensonne. Zu Huangs Überraschung stand auch vor dem Haus ein bewaffneter Wächter. Huang hatte bereits von Chens Sonderstatus als aufstrebender Kader gehört, war aber dennoch sehr verblüfft.
»Polizeimeister Huang?«, vergewisserte sich der Wachmann. »Genosse Oberinspektor Chen erwartet Sie.«
»Genosse Oberinspektor Chen?«, murmelte Mi ungläubig. »Hier in dieser Villa?«
Huang interpretierte das Vorgehen des Oberinspektors so, dass dieser sich nicht länger als sein Kollege ausgeben, sondern seine wahre Identität bewusst offenlegen wollte.
»Er ist ein ziemlich hohes Tier«, sagte Huang unbestimmt, denn er war sich nicht sicher, ob das der Eindruck war, den Chen auf sie machen wollte.
Als sie das weitläufige Wohnzimmer betraten, sah
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