Tödliches Wasser: Roman (German Edition)
ihm zwei Visitenkarten. Die eine wies ihn als Polizist aus, die andere als Mitglied des Schriftstellerverbands. »Ich kenne Sie von einem Foto. Wenn Ihre Mutter in der Kirche ist, könnte ich mich vielleicht ein wenig mit Ihnen unterhalten?«
Es gab da einige Fragen, die er dem Sohn gern stellen wollte, auch wenn er nicht erwartete, dadurch ein fehlendes Puzzleteilchen zu finden.
»Respekt, ein Oberinspektor aus Shanghai«, sagte Wenliang und grinste ein wenig schief, dann studierte er die zweite Karte. »Und obendrein noch Dichter!«
Er führte Chen in das Wohnzimmer, wo sich Huang und er vor ein paar Tagen schon mit Frau Liu unterhalten hatten. Der einzige augenfällige Unterschied zu ihrem letzten Besuch war ein großes, farbiges Familienfoto an der Wand, das Wenliang zwischen den stolz lächelnden Eltern zeigte. Die Aufnahme musste erst kürzlich vergrößert worden sein.
»Tee oder Kaffee?«
»Tee, bitte«, sagte Chen. »Eigentlich bin ich auf Urlaub hier, aber ich helfe bei den Ermittlungen um den Tod Ihres Vaters. In diesem Zusammenhang habe ich erfahren, dass Sie letztes Jahr ein Praktikum in der Firma gemacht haben. Ihre Auskünfte können daher sehr wertvoll für uns sein.«
»Was wollen Sie denn wissen, Oberinspektor Chen?«
»Zunächst mal, warum Sie ein Praktikum in einem Chemiewerk gemacht haben. Sie studieren doch Literatur an der Peking-Universität, wenn ich recht informiert bin.«
»Mein Vater hatte eigene Pläne für mich.«
»Welche Pläne?«
»Er wollte, dass ich nach dem Abschluss meines Studiums in der Firma arbeite. Er sagte, er habe sogar schon eine Stelle für mich. Das Praktikum war der erste Schritt. Ich vermute, dass er mich langfristig als seinen Nachfolger aufbauen wollte. Für einen Mann wie ihn war es selbstverständlich, dass er den Betrieb in der Familie halten wollte. Das hat er mir mehrfach so dargestellt.«
»Meines Wissens ist die Einsetzung von leitenden Kadern, insbesondere bei Positionen wie der Ihres Vaters, immer noch der Parteiführung vorbehalten. Und das Chemiewerk«, fügte Chen hinzu, »wäre auch nach dem Börsengang ein Staatsbetrieb geblieben.«
»Das habe ich ihm auch gesagt, aber er meinte, in der heutigen Gesellschaft sei mit guten Beziehungen alles zu regeln. Und die hatte er, in der Stadtregierung und weiter oben. Ich wäre ja nicht über Nacht sein Nachfolger geworden.«
»Verstehe. Kein Wunder, dass er ein Foto von Ihnen und sich in seinem Büro stehen hatte. Es war das Einzige dort.«
»Welches Foto?«
»Aus Ihrer Praktikumszeit, nehme ich an. Sie beide stehen vor dem Bücherregal – vor einer Reihe glitzernder kleiner Statuen.« Chen nahm ein paar Fotos aus seiner Tasche und suchte das richtige heraus.
»Ach, das. Ja, es wurde während meines Praktikums im Sommer aufgenommen. Er war so stolz auf die Erfolge des Betriebs, die jedes Jahr mit diesen Statuen belohnt wurden. Er hatte sie alle nebeneinander auf dem Regal stehen.«
Der Anblick der glitzernden Statuetten im Hintergrund des Fotos löste bei Chen eine plötzliche, unterbewusste Reaktion aus. Er hatte das gerahmte Bild am Tatort abfotografiert, weil er keine andere Aufnahme von Liu besaß. Seiner Erfahrung nach konnten solche Bilder eine Verbindung zwischen Ermittler und Opfer herstellen. Daher hatte er es im Erholungsheim eingehend studiert.
»Dann hat er letztes Jahr also keine bekommen?«, sagte Chen.
»Doch natürlich. Warum fragen Sie?«
Statt einer Antwort suchte Chen zunächst einige weitere Fotos vom Tatort heraus. Auf allen waren im Hintergrund die Statuetten zu erkennen. Es waren neun.
»Er bestand darauf, dass wir vor diesen Auszeichnungen fotografiert werden«, sagte Wenliang und starrte auf das Bild mit Vater und Sohn. »Er hat die Figuren alle aufs Regel gestellt, jedes Jahr eine.«
Hier stimmt etwas nicht, dachte Chen. Da er die Aufnahmen erst vor wenigen Tagen gemacht hatte, hätte man zehn Statuetten darauf erkennen müssen. Aber es waren und blieben neun.
»Er hat sie alle vergolden lassen, mit Geld aus einem eigens dafür eingerichteten Firmenfonds. In einem unserer Telefongespräche gegen Jahresende hat er stolz davon erzählt: ›Jetzt habe ich zehn Jahre in Folge diese Auszeichnung für die Firma entgegengenommen. Die elfte oder spätestens die zwölfte wird man dir überreichen.‹«
Es war also die zehnte Statuette, die in Lius Privatbüro fehlte. Was aber bedeutete das? Vielleicht hatte Liu sie einfach nur irgendwo anders hingestellt?
An diesem Punkt
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