Tödliches Wasser: Roman (German Edition)
wieder zurückzugehen.«
Chen enthielt sich jeglichen Kommentars. Er fragte sich, worauf der Alte hinauswollte.
»Deshalb sympathisiere ich auch mit Shanshans Kampf für die Umwelt«, fuhr Onkel Wang nickend fort. »Ich bin ein alter Mann, für mich ist das nicht mehr so wichtig. Aber es ist ein Thema, das viele angeht – letztlich uns alle. Shanshan glaubt an das, was sie tut, ganz gleich, was andere sagen. Und wer sie in diesen schweren Zeiten unterstützt, muss ein ungewöhnlicher Mann sein.«
Chen war beeindruckt, nicht allein von Onkel Wangs Geschichte. Manche Menschen versuchten so zu leben, wie es ihnen passend und sinnstiftend erschien, auch wenn das für ihre Mitmenschen nicht unbedingt nachvollziehbar war. Ähnliches hatte auch Peqin formuliert, wenngleich es ihm nur durch Yu am Telefon übermittelt worden war.
Manchmal waren die Dinge wie durch ein unsichtbares Netz miteinander verknüpft. Vor vielen Jahren hatte Onkel Wang die Geschichte eines dichtenden Beamten gehört, der für sein Leben gern Fisch aß, während er selbst ein Fischgericht aus dem See genoss. Daraufhin hatte er beschlossen, in Wuxi einen Imbiss zu eröffnen. Doch dann wurde der See immer schmutziger. Und Jahre später verbündete er sich mit Shanshan im Kampf für den Umweltverschutz. Und noch später tauchte ein Oberinspektor aus Shanghai während seiner unfreiwilligen Ferien in diesem kleinen Lokal auf, wo er wiederum Shanshan traf … So viele auf rätselhafte Weise zusammengefügte Glieder gab es in dieser Kette; und hätte nur eines gefehlt oder wäre anders aufgefädelt worden, so wäre auch die Geschichte völlig anders verlaufen. Nicht umsonst heißt es im Buddhismus, dass auch die kleinste Handlung vorbestimmt ist und ihrerseits Einfluss auf das weitere Geschehen nimmt.
» Drum frage nicht, wem die Totenglocke schlägt, denn sie schlägt dir «, sagte Chen.
»Was meinen Sie?«
»Ach, nur ein Zitat. Ich dachte an die Umweltkatastrophe in China.«
Aber zugleich dachte er an den Mordfall.
Es gab vielfältige Verbindungen zwischen den Beteiligten. Liu, seine Frau, Mi, Jiang, Shanshan, Onkel Wang, Fu und viele mehr, sie alle waren verknüpft durch eine lange Kette von fehlgeleitetem Yin und Yang, von sichtbaren und unsichtbaren Verbindungen. Dennoch war es für ihn nicht einfach festzustellen, wo eine solche Verbindung existierte und wo nicht. So hatte er sich zum Beispiel eine eher abwegige Möglichkeit herausgegriffen, indem er versuchte, eine Gemeinsamkeit in den häufigen Shanghai-Ausflügen von Fu und Frau Liu zu finden. Dabei gab es diese Verbindung offenbar gar nicht.
Und noch eine weitere Verbindung hatte sich als falsch erwiesen – Mis Aussage über den Streit zwischen Liu und Jiang am 7. März. Es sei denn, Shanshan hätte ihn absichtlich fehlgeleitet. Es wäre ja immerhin möglich, dass auch sie aufgrund ihrer Rolle in dem Drama zu den »unzuverlässigen Erzählern« gehörte.
Aber er hatte beschlossen, Shanshan zu glauben. Mehr noch, er unterstützte sie »in diesen schweren Zeiten«, wie Onkel Wang eben gesagt hatte.
Also musste Oberinspektor Chen diesem Hinweis weiter nachgehen.
Eine Ehefrau konnte unmöglich alle Termine ihres Mannes im Kopf haben, noch dazu, wenn sie so lange zurücklagen. Aber Frau Liu würde sich sicher noch daran erinnern, wenn die Rückkehr ihres Mannes sie um Mitternacht aus dem Schlaf gerissen hatte.
Doch wie sollte er an sie herantreten? Das letzte Mal war er in Begleitung von Polizeimeister Huang gekommen. War das auch diesmal nötig? Es würde nicht mehr lange dauern, bis die Innere Sicherheit auf ihn aufmerksam wurde. Deshalb wollte er Huang lieber heraushalten. Es musste auch ohne ihn gehen.
Unvermittelt stand er auf. »Vielen Dank, Onkel Wang. Sie haben mir weitergeholfen, aber jetzt muss ich gehen. Rufen Sie mich bitte an, wenn Shanshan hier auftaucht.«
Eilig verabschiedete er sich von dem Alten und winkte ein Taxi heran.
20
ZWANZIG MINUTEN SPÄTER stand Chen bei Frau Liu vor der Tür.
Ein großer, schlanker junger Mann öffnete ihm. Chen schätzte ihn auf Anfang zwanzig; er trug ein weißes, traditionell geschnittenes Hemd, das mit schwarzen Schriftzeichen bedruckt war, ganz offensichtlich ein Student.
»Sie ist in der Kirche und wird vermutlich nicht vor dem Nachmittag zurück sein. Was wollen Sie von ihr?«
»Sie sind also ihr Sohn Wenliang.«
»Ja, das bin ich.«
»Freut mich, Sie kennenzulernen. Mein Name ist Chen«, sagte der Oberinspektor und reichte
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