Tödliches Wasser: Roman (German Edition)
durfte er sich keinen Spekulationen hingeben, die für die Ermittlungen gar nicht relevant waren.
»Sie möchten also weiterhin in die Firma einsteigen?«
»Eher nicht. Ein neuer Kaiser muss sich seine Minister selbst suchen.«
»Welche Pläne haben Sie dann?«
»Ob Sie’s glauben oder nicht, meine Leidenschaft gilt der Pekingoper. Ich würde gern meinen Magister in diesem Bereich machen.«
»Das ist ja interessant«, bemerkte Chen und war sich zugleich bewusst, dass andere seine Leidenschaft für die Poesie ähnlich trocken kommentieren würden.
»Es mag in der heutigen Zeit keine sehr vernünftige Entscheidung sein, aber dank des Erbes werde ich mich wohl über Wasser halten können.«
»Leider ist weder mit Gedichten noch mit der Pekingoper Geld zu verdienen.«
»Mein Vater hat sich sein Leben lang abgerackert und konnte auch nichts von dem Erwirtschafteten mitnehmen.«
»Genau. Ohne Geld kann man nicht leben, aber man lebt auch nicht allein fürs Geld.«
»Außerdem ist inzwischen niemand mehr erpicht darauf, dass ich in der Firma arbeite.«
»Aber Fu, der neue Chef, möchte Ihrer Mutter eine Stelle dort anbieten, wie ich gehört habe.«
»Was kann er ihr schon anbieten? Einen Job auf niedrigstem Niveau, ein Witz ist das. Allenfalls eine nette Geste.«
»Aber Fu scheint die Leute, die unter Ihrem Vater gearbeitet haben, doch nicht schlecht zu behandeln. Mi zum Beispiel ist bereits befördert worden.«
»Verschonen Sie mich mit der«, erklärte Wenliang mit unverhülltem Abscheu im Gesicht. »Das ist doch wie in der Pekingoper Sarg in Splittern .«
» Sarg in Splittern ?«
»Sie kennen sicher die Geschichte von Zhuangzis plötzlicher Einsicht in die Nichtigkeit der Menschenwelt?«
»Meinen Sie die, wo er träumte, ein Schmetterling zu sein, und sich nach dem Aufwachen fragte, ob er nicht vielleicht als Schmetterling von einem Leben als Zhuangzi träumte? Er war zwar ein großer Philosoph, aber wir sollten diese Geschichte nicht allzu wörtlich nehmen.«
»Ja, schon, aber es gibt davon eine volkstümliche Opernfassung, die recht anders verläuft. In dieser Version hat Zhuangzi nämlich eine liebende Ehefrau. Sie war das Einzige in dieser Welt des roten Staubes, von dem er wider alle philosophische Einsicht nicht lassen konnte. Eines Tages wurde er plötzlich krank, und sie schwor ihm am Krankenbett, in ihrem Herzen sei nur Platz für ihn allein. Gleichwohl sah sie sich, kaum dass er seinen letzten Atem ausgehaucht hatte, nach einem neuen Liebhaber um und wurde tatsächlich noch am selben Tag fündig. Doch schon über Nacht erkrankte auch dieser Mann. Ein Quacksalber sagte, dass nur eine Arznei aus frischem Menschenherz ihn heilen könne. Also brach sie den Sarg ihres Verflossenen auf, um ihm das Herz herauszuschneiden. Allerdings stellte sich heraus, dass Zhuangzi sie mit Hilfe seiner übernatürlichen Kräfte nur auf die Probe hatte stellen wollen. Aus Scham beging sie Selbstmord, während ihr Gatte vollends von der Nichtigkeit menschlicher Leidenschaft überzeugt war.«
Chen erinnerte sich, diese Volkserzählung schon einmal gehört zu haben, doch in einer weniger grausamen Version als Wenliangs Opernfassung.
»Sie wollen damit sagen …«
»Sie wissen schon, was ich damit sagen will. Mi ist eine kleine Sekretärin, die sich von ihrem Chef aushalten ließ«, erklärte Wenliang abschätzig. »Und jetzt hängt sie sich eben an den nächsten.«
»Nun …«
»Einen Jüngeren, der bereits hinter der Bühne auf den Abgang des Alten gewartet hat.«
»Wie bei Hamlet , meinen Sie?«
»Genau. Wir haben vor ein paar Monaten eine Pekingopernfassung des Hamlet bei uns an der Uni aufgeführt. Der Stoff ist universal, ein echtes Meisterwerk. Auch Mi hat sich nach dem Tod meines Vaters sofort den nächsten gesucht. So ist sie, während meines Praktikums im letzten Sommer habe ich einiges mitbekommen. Natürlich ging es mich nichts an. Aber mein Vater hat ihr nie wirklich vertraut, er wusste Bescheid.«
Aber auch Wenliang war kein unvoreingenommener Erzähler; aus ihm sprach die verständliche Abneigung gegen die Geliebte seines Vaters.
»Sind Sie sich da sicher, Wenliang?«, fragte Chen nach.
»Das sind keine Hirngespinste, das versichere ich Ihnen. Ich habe es schließlich mit eigenen Augen gesehen«, antwortete der junge Mann aufgebracht. »Natürlich ist es für eine kleine Sekretärin kein Verbrechen, wenn sie hinter dem Rücken des Chefs mit der Nummer zwei im Betrieb anbandelt. Was sollte ich
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