Tödliches Wasser: Roman (German Edition)
einem Fehler geführt haben sollte.«
»Aber hier handelt es sich um einen Mordfall, Mi. Ein Unschuldiger könnte aufgrund Ihrer Falschaussage verurteilt werden.«
»Aber nein, so dürfen Sie das nicht nennen. Sie wissen doch, dass man sich nicht immer hundertprozentig auf sein Gedächtnis verlassen kann. Was soll ich denn tun? Ich könnte ja jetzt vor Ihnen und Polizeimeister Huang eine neue Aussage machen. Die Begegnung zwischen Jiang und Liu hat im März stattgefunden, da bin ich mir ganz sicher.«
»Lassen wir das zunächst einmal beiseite und wenden uns einem anderen Punkt Ihrer Aussage zu. Er betrifft den Tag des Mordes. Sie sagten, dass Sie bis spätabends im Firmenbüro an den Vorbereitungen für den Börsengang gearbeitet haben. Das ist gerade mal eine Woche her, da kann Ihr Gedächtnis Sie doch nicht im Stich lassen, oder?«
Das war ein Hinweis, und sie begriff sofort. Sie wurde kreidebleich und blickte verstört und stumm von einem zum anderen, während sie nervös die Hände rang.
»Sie gaben an, so beschäftigt gewesen zu sein, dass Sie nicht vor elf das Büro verließen«, fuhr Chen fort. »Nicht einmal Zeit zum Abendessen in der Firmenkantine hatten Sie. Stimmt das?«
»Ja, das stimmt«, erwiderte sie. »Wir mussten den Börsengang vorbereiten. Obwohl es ein Sonntag war, sind viele zur Arbeit gekommen, einschließlich Fu. Ich habe mich an jenem Abend mit ihm unterhalten, auch er hat bis spätabends gearbeitet.«
»Ich muss Sie nochmals darauf hinweisen, Mi, dass Falschaussage ein schweres Vergehen ist. Glauben Sie, dass es das wirklich wert ist?« Nach dieser Warnung schlug Chen lässig die Beine übereinander, blies in seine Teetasse und trank einen Schluck. »Konfuzius hat gesagt: Ein Mann gibt sein Leben für jemanden, der ihn schätzt; eine Frau schmückt sich für den, der sie liebt. Aber es kommt immer darauf an, wer das ist.«
»Ich fürchte, ich verstehe Sie nicht, Oberinspektor Chen.«
»Dann lassen Sie mich eine Frage stellen. Liu benutzte in der Regel den Hintereingang, wenn er von der Fabrik in sein Privatbüro ging, nicht wahr?«
»Ich glaube schon. Es ist eine Abkürzung.«
»Haben Sie auch immer den Hintereingang genommen?«
»Ja, wenn ich dort mit ihm zu arbeiten hatte. Der Weg über den Haupteingang ist mindestens zehn Minuten länger.«
»Ich vermute mal, dass Sie nichts von der modernen Überwachungskamera wissen, die über dem Hintereingang angebracht ist.«
»Nein, davon weiß ich nichts. Warum?«
»Der Hintereingang wird um acht Uhr abends geschlossen, wenn das Sicherheitspersonal seinen Arbeitsplatz verlässt. Das ist allgemein bekannt. Die Videokamera registriert allerdings die ganze Nacht über Personen, die durch dieses Tor das Fabrikgelände verlassen. Das dürfte Ihnen unbekannt gewesen sein.«
»Genau«, schaltete Huang sich ein. Allmählich begriff er, wenngleich auch er nichts von dieser Überwachungskamera gewusst hatte. Doch wenn es am Haupteingang eine gab, konnte am Hintereingang ebenso gut eine installiert sein. »Die Kamera läuft die ganze Nacht«, hielt er Chens Linie.
»Nein, das wusste ich nicht.«
»Und warum nicht? Weil Liu der Ansicht war, Sie als kleine Sekretärin bräuchten über solche Dinge nicht informiert zu sein. Deshalb hat er es nicht erwähnt. Wir haben uns die Bänder der fraglichen Nacht besorgt und sie genau angesehen …«
»Dort ist jeder registriert, der in jener Nacht durch das Tor gegangen ist«, beeilte sich Huang noch einmal zu betonen.
Nun hatte Chen sie in der Falle. Mi öffnete hilflos den Mund, brachte aber keinen Ton heraus.
»Hat das Ihrem Gedächtnis ein wenig aufgeholfen, Mi?«
»In letzter Zeit ist so viel passiert«, wiederholte sie. »Ich bin völlig überarbeitet, da kann einen die Erinnerung schon mal trügen.«
»Eine junge, dynamische Chefsekretärin muss viele Dinge gleichzeitig im Kopf haben«, drängte Chen erbarmungslos. »Aber egal, die Videobänder gelten vor Gericht als zulässiges Beweismaterial, das wissen Sie.«
»Sollen wir sie Ihnen etwa vorführen?«, setzte Huang hinzu.
»Sie …« Wie elektrisiert sprang Mi auf, ließ sich jedoch gleich wieder taumelnd in den Sessel zurückfallen.
Chen goss sich eine Tasse Tee ein, dann eine weitere für Huang. Mi ignorierte er.
Es dauerte einige Minuten, bis sie sich wieder gefangen hatte.
»An jenem Abend habe ich so viel gearbeitet, Oberinspektor Chen. Es kann durchaus sein, dass ich zwischendurch ein wenig Luft schnappen ging, ohne dass mir das
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