Tödliches Wasser: Roman (German Edition)
im nachhinein bewusst war. Ich weiß es einfach nicht mehr, es ist mir entfallen.«
»Damit haben Sie nun schon zweimal in einem Mordfall falsch ausgesagt.«
»Nein, ich habe es schlicht vergessen.«
»Sie haben das Protokoll Ihrer damaligen Aussage eigenhändig unterschrieben. Und von Ihrer neuen Aussage liegt uns ein Mitschnitt vor, der in Anwesenheit von Polizeimeister Huang und mir aufgenommen wurde. Eine kleine Fehlleistung des Gedächtnisses wäre noch entschuldbar, aber zweimal darf so was nicht passieren, insbesondere nicht in einem Mordfall. Wie das nun zu werten ist, das müssen Sie schon der Polizei überlassen. Finden Sie nicht auch, Polizeimeister Huang?«
»In der Tat«, bestätigte Huang.
Mi starrte die beiden Polizisten an wie ein schmelzender Schneemann, ihre Augen glichen zwei schwarzen Kohlestückchen.
Sie war beim Lügen ertappt worden. In Huangs Kopf kreisten verschiedene mögliche Szenarien. Wenn sie sich weiter auf ihre Gedächtnisschwäche hinausredete, käme sie damit eventuell sogar durch. Die Tatsache, dass sie das Fabrikgelände durch den Hinterausgang verlassen hatte, ließ ja nicht zwingend darauf schließen, dass sie in Lius Privatbüro gegangen war. Und dort gab es keine Sicherheitskamera. Es lagen weder Zeugenaussagen noch Indizien gegen sie vor. Ein Motiv hatte sie auch nicht.
Außerdem war die Innere Sicherheit nicht auf der Suche nach einer Hauptverdächtigen; der Geheimdienst hatte seinen Mörder ja längst gefunden.
Das Schweigen lastete im Raum wie ein schwerer Fels.
Was würde der Oberinspektor jetzt tun?
»Fu hat sich an jenem Wochenende nicht in Wuxi aufgehalten«, sagte Chen unvermittelt in die Stille hinein.
Auch dieser Schachzug war Huang völlig unverständlich. Wieso brachte Chen an diesem entscheidenden Punkt Fu ins Gespräch?
»Ja, er war geschäftlich in Shanghai.«
»Er war in Shanghai, so weit ist Ihre Aussage korrekt, aber mit dem ›geschäftlich‹ wäre ich mir nicht so sicher. Ich besitze da zufällig ein paar Aufnahmen, die am vergangenen Samstag, also vorgestern, gemacht wurden. Natürlich nicht von dieser Überwachungskamera.«
Chen entnahm einem großen Umschlag einige Abzüge. Sie zeigten Fu, wie er mit einer jungen Frau aus einem Hoteleingang auf eine belebte Straße trat. Dann sah man die beiden Hand in Hand, das Hotel war im Hintergrund gut sichtbar; auf einem der nächsten Fotos küssten sie sich ungeachtet der Passanten leidenschaftlich. Trotz der schlechten Qualität der Aufnahmen war Fu eindeutig zu erkennen; die junge Frau an seiner Seite kannte Huang nicht. Das letzte Bild zeigte die Werbetafel des Hotels.
»Sehen Sie sich dieses Schild genau an. Hier handelt es sich um ein sogenanntes Stundenhotel«, erklärte Chen mit besonderer Betonung auf dem letzten Wort, während er Mi das Foto reichte. »Es liegt an der Nanjing Lu. Wer würde mit ihm in ein solches Hotel gehen?«
»Eine Prostituierte?« Huang fühlte sich genötigt, etwas zu sagen, auch wenn ihm die Taktik des Oberinspektors nicht klar war.
Das Foto in Mis Hand begann zu zittern.
»Nein, das ist keines der Mädchen, die sich auf der Nanjing Lu ihre Kundschaft suchen, das kann ich Ihnen versichern, Mi. Sie ist seine Verlobte. Der Nachbarschaftspolizist aus Fus Shanghaier Viertel hat mir das soeben bestätigt. Fu hat die Beziehung zu ihr hier am Arbeitsplatz geheimgehalten. Den Grund dafür kennen Sie besser als ich, Mi. Jedenfalls haben sich Fu und seine Verlobte an jenem Samstagnachmittag in dieses zwielichtige Hotel geschlichen und sind über zwei Stunden dort geblieben. Was sie dort taten, können Sie sich leicht denken. Auf diesem Foto kommen sie gerade heraus. Beachten Sie das strahlende, zufriedene Lächeln auf dem Gesicht der jungen Frau. Und hier sieht man auch den Hoteldiener, wie er ausruft: ›Sauber und praktisch. Wir wechseln die Bettwäsche nach jedem Gast. Vierundzwanzig Stunden heiße Dusche. Mandarinenten-Bad … das ist sein Geld wert. Fünfzehn Minuten in sprudelndem Wasser, und Sie sind ein neuer Mensch.‹«
Erstaunlich, dass Chen sich gerade an diesem Punkt des Verhörs in farbenfrohen Schilderungen erging; er erinnerte an einen Akteur der Suzhou-Oper, der den Handlungsverlauf in allen Details ausmalt.
Aber auch hier drängte Chen sie nicht weiter, sondern legte die Fotos wie ein Mosaik auf dem Tisch aus.
»Sehen Sie sich die Aufnahmen gut an. Und denken Sie scharf nach, Mi. Niemand weiß von unserer Unterhaltung hier. Noch nicht. Und Huang ist
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