Tödliches Wasser: Roman (German Edition)
mein treuer Assistent, wegen ihm brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen.«
»Was wollen Sie von mir, Oberinspektor?«
»Ich sehe ja ein, dass das alles völlig überraschend kommt«, sagte Chen und sah auf seine Uhr. »Polizeimeister Huang und ich werden jetzt im Restaurant des Erholungsheims eine Kleinigkeit essen. Sie können in der Zwischenzeit hier in aller Ruhe nachdenken. Nur das Haus sollten Sie dabei nicht verlassen. Falls Sie Hunger haben, bringen wir Ihnen gern etwas aus dem Restaurant mit.«
»Er denkt wirklich an alles, der Oberinspektor«, kommentierte Huang.
Chen schrieb eine Nummer auf eine seiner Visitenkarten. »Das ist meine Handynummer. Wenn Ihnen etwas einfällt, rufen Sie mich an.«
Er reichte ihr die Karte und stand dann abrupt auf. Huang tat es ihm nach, obwohl der junge Polizist keineswegs mit einer solchen Mittagspause gerechnet hatte.
Mi war schon jetzt sichtbar erschüttert und hätte vermutlich nicht mehr lange durchgehalten, wenn Chen weiter Druck auf sie ausgeübt hätte.
»Was wollen Sie, Oberinspektor Chen?«, wiederholte sie, und ihre Mundwinkel zuckten.
Chen wandte sich ihr noch einmal zu, bevor er mit Huang hinausging. »Sie sind doch eine kluge Frau, Mi. Gebrauchen Sie Ihr Hirn, dann werden Sie schon herausfinden, ob das, was ich Ihnen erzählt habe, wahr ist oder nicht.«
22
CHEN VERLIESS IN Begleitung von Huang das Zimmer.
Doch anstatt ins Restaurant zu gehen, führte er ihn in ein Bambuswäldchen am Fuß des bewaldeten Hügels, von wo sie die Villa gerade noch durch das grüne Blattwerk schimmern sahen. Sie ließen sich auf einem Felsen nieder; zarte junge Bambusschösslinge glänzten golden in der Sonne.
»Ein schöner Ort, dieses Erholungsheim, finden Sie nicht auch?«, meinte Chen, der die Frage in Huangs Blick las. »Keine Sorge, Huang. Sie wird keinen Fluchtversuch unternehmen. Und wenn, wird der Wachmann sie daran hindern.«
»Wie haben Sie Mi gegenüber Verdacht geschöpft, Oberinspektor Chen?«
»Erinnern Sie sich noch an unsere Diskussion am Tatort? Da kamen mir zum ersten Mal Zweifel.«
»Ja, Sie haben einige gute Fragen hinsichtlich des Tatorts gestellt, aber Mi kam dabei nicht vor.«
»Weil ich zu dem Zeitpunkt selbst noch nicht überzeugt war. Die Innere Sicherheit hatte bereits Fakten geschaffen, also versuchte ich, Jiang in den Tathergang einzufügen, aber es wollte mir nicht gelingen. Mich störte, dass am Tatort nichts auf einen Kampf hindeutete. Es sah so aus, als sei Liu im Schlaf getötet worden. Natürlich spräche um diese späte Stunde nichts dagegen, dass Liu tatsächlich schlief, aber nach dem Szenario der Inneren Sicherheit stand Liu die Auseinandersetzung mit einem Erpresser bevor. Wie konnte er da einnicken? Außerdem muss jemand Jiang eingelassen haben.«
»Nur mal theoretisch, Jiang könnte sich doch auch hereingeschlichen haben, falls Liu die Wohnungstür offen…« Huang beendete den Satz nicht, das Ganze klang ihm selbst viel zu unwahrscheinlich.
»Auch in einem solchen Fall wäre dem Mord ein Gespräch vorausgegangen, ein Gespräch, das zu keinem Ergebnis führte.«
»Stimmt.«
»Dann wurde ich auf ein weiteres Detail aufmerksam. Mi hat erzählt, dass Liu Schlafprobleme hatte und deshalb Schlafmittel nahm. Das wurde durch den Autopsiebericht bestätigt. Ich habe daraufhin bei Frau Liu nachgefragt, die sich in diesem Punkt nicht so sicher war. Nach eingehender Überlegung fiel mir eine weitere Ungereimtheit auf. Der Tod ist angeblich zwischen halb zehn und halb elf eingetreten; er müsste die Schlaftabletten also vorher geschluckt haben, ich kann mir allerdings nicht vorstellen, dass er vor Jiangs angekündigtem Kommen oder in dessen Gegenwart ein solches Mittel genommen hätte.«
»Genial gefolgert, Chef.«
»Aber lassen wir diese Fragen vorerst beiseite und folgen weiter dem Szenario der Inneren Sicherheit. Es existieren keinerlei Unterlagen über eine Erpressung durch Jiang – weder in der Fabrik noch in den Akten des Geheimdiensts. Lius Wort hätte also gegen das von Jiang gestanden. Jiang dagegen hätte auf die Ergebnisse seiner Nachforschungen verweisen können und verfügte über Kontakte zu den Medien. Hätte er Liu erpresst und dieser wäre nicht darauf eingegangen, hätte Jiang sich wohl an die Medien gewandt. Wäre Liu wegen eines Erpressungsgelds ein solches Risiko eingegangen, noch dazu unmittelbar vor dem geplanten Börsengang? Wäre das Ausmaß seiner Umweltsünden erst einmal bekannt geworden, wären
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