Töte, wenn du kannst!: Kriminalroman (German Edition)
vor ihren Füßen. Klitschnass erreichten sie das Haus. Sie zogen sich gegenseitig die Kleider aus und liebten sich, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt, während sich das Unwetter über dem Meer austobte und schließlich grummelnd auflöste. Ein dünner Sommerregen flüsterte sie schließlich in den Schlaf.
Jören war wenige Jahre jünger als Lillemor, er hatte Kunst studiert und jobbte in einem Café. Wenn er frei hatte, ging er segeln oder malte. Es gab zwei Sorten von Bildern. Die eine Sorte nannte er naserümpfend »die Schönen« – gegenständliche Bilder, die die Schönheit der westlichen Schären in Acryl bannten: das Meer, mal glatt, mal sturmgepeitscht, die bunten, hölzernen Fischerboote, die im Hafen rotteten, weil ihre Besitzer längst auf einem Trawler mit Satellitentechnik arbeiteten, und natürlich, immer wieder, die dunkelroten Fischerhäuschen mit den aufgespannten Netzen davor. Jören behauptete, diese Bilder zu hassen. Aber mit ihnen verdiente er Geld, indem er sie an die Touristen verkaufte. Und es gab die, die er für die wahre, authentische Kunst hielt. Insgeheim mochte Lillemor seine »schönen« Bilder lieber als die anderen. Deren wirres, wütendes Gekleckse flößte ihr Unbehagen ein, so, als offenbarte es eine Seite von ihm, von der sie lieber nichts wissen wollte. Natürlich sagte sie ihm das nie.
Jören kündigte den Job im Café, zog zu ihr, und sie verlebten einen schwerelosen Sommer. Ende August begann Lillemor ihn zu fragen, wo sie den Winter verbringen sollten. Wie selbstverständlich ging sie davon aus, dass sie ab jetzt zusammenbleiben würden. Schließlich liebten sie sich, und sie verdiente Geld genug für zwei. Aber sie bekam nie eine klare Antwort von ihm, und als einen Monat später der erste Herbststurm die Wärme und das Licht des Sommers vertrieb, verschwand auch Jören, als wäre er ein Zugvogel. Er versprach, im nächsten Sommer zurückzukommen, aber Lillemor wusste, dass sie sich nicht wiedersehen würden.
Ohne ihn ertrug sie die Insel nicht mehr. Sie zog nach Kopenhagen, sie mochte die fast schon südländische Leichtigkeit und Lebhaftigkeit dieser Stadt. Allerdings war es mit dem mediterranen Flair während der Wintermonate auch nicht allzu weit her.
Dann bestätigte sich Lillemors Ahnung, dass sie schwanger war. Nachwuchs war in ihren Lebensentwürfen bis jetzt nicht vorgekommen. Aber sie fand den Gedanken aufregend und freute sich von Woche zu Woche mehr auf das Kind.
Im Mai 2005 wurde Marie geboren, und obwohl sie seine E-Mail-Adresse hatte, schrieb sie Jören nichts davon. Sie schrieb ihm überhaupt nicht. Sie war glücklich mit der Kleinen. Es war eine ganz neue, andere Art von Liebe, so tief und erfüllend, dass es manchmal sogar wehtat. Nein, sie brauchte ihn nicht mehr, sie brauchte niemanden mehr.
Als Marie drei Monate alt war, besuchte Lillemor ihre Mutter ein paar Tage vor deren Geburtstag, um dem Geier aus dem Weg zu gehen. Stolz und strahlend schwenkte sie Camilla das Baby in der Tragetasche entgegen wie eine mühsam errungene Trophäe. Sie ignorierte das Seufzen Camillas, nachdem diese sich nach dem Vater des Kindes erkundigt hatte. Auch Camillas Bemerkungen, dass das Kind auffallend ruhig wäre, kaum schreie und sich zu wenig bewege, hielt Lillemor zunächst für eine weitere Böswilligkeit ihrer Mutter. Trotzdem ging sie mit Marie etwas früher als notwendig zur nächsten Routineuntersuchung. Der Arzt klopfte und zerrte an dem Säugling herum, leuchtete in die Augen, machte einen Bluttest und überwies Marie an einen Neurologen, wobei er etwas von »keine Sorgen machen« und »nur eine Vorsichtsmaßnahme« faselte.
Aber die Lüge stand ihm scharlachrot ins Gesicht geschrieben.
Lillemor hatte in Vorfreude auf das Kind alle möglichen Ratgeberbücher verschlungen. Doch niemand hatte sie darauf vorbereitet, dass sie eines Tages die Mutter eines Kindes sein würde, das wahrscheinlich nie »Mama« zu ihr sagen würde.
Plötzlich war alles bedeutungslos: die Gedanken an Kindergarten, Schule, Musikunterricht, die Spekulationen über ihren späteren Berufsweg und welches Talent wohl in ihr schlummerte, all die Erwartungen, die Eltern für gewöhnlich an ihre Kinder richten, galten nichts mehr, denn es gab keine Zukunft für Marie. Nie würde sie ihre Mutter stolz machen oder sie enttäuschen.
Marie würde sterben.
Eine genetische Anomalie mit dem Namen Tay-Sach-Syndrom. Sehr selten. Marie würde sich zurückentwickeln. Lähmungen
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