Töte, wenn du kannst!: Kriminalroman (German Edition)
den sanften und doch gebieterischen Ton in seiner Stimme.
Ihr erstes Gehalt investierte sie in einen Minirock, enge Hosen und einen Fön. Jeden Morgen stand sie nun eine halbe Stunde früher auf, glättete ihre blonden Haare und malte sich einen dicken schwarzen Lidstrich, so wie die Popstars im Fernsehen. Doch die Chefsekretärin, ein sauertöpfischer alter Drachen, erinnerte sie daran, dass das hier ein seriöses Wirtschaftsunternehmen wäre und keine Diskothek. Also erschien Camilla wieder in den knielangen Röcken, hochgeschlossenen Blusen und den selbst gestrickten Pullovern, die sie von der Insel mitgebracht hatte. Trotzdem hielt der Drachen sie ab jetzt vom Büro des Direktors fern, ging selbst zum Diktat oder schickte das andere, etwas pummelige Mädchen. Camilla hingegen durfte nur noch Briefe abtippen und die Ablage sortieren. Aber diese Maßnahmen griffen zu spät. Längst hatte der Chef ein Auge auf sie geworfen, und als er sie an einem kühlen Spätsommerabend nach Hause gehen sah, ließ er sie in seinen Wagen steigen und lud sie zum Essen ein. An diesem Abend beschloss Camilla, dass dies das Leben war, das sie künftig führen wollte: Kerzenlicht, das sich im Tafelsilber spiegelte, Kellner, die eilfertig herumhuschten, um einem jeden Wunsch von den Augen abzulesen, französische Weine und Speisen, deren Namen sie nie vorher gehört hatte. Vor allen Dingen aber wollte sie diesen Mann, nach dessen Pfeife alle tanzten.
Er stand vor einem alten Telefon mit Wählscheibe. Immer wieder versuchte er, die Nummer, die auf dem Brief abgedruckt war, zu wählen, aber jedes Mal glitt sein Finger bei einer der Zahlen ab und er musste von vorn anfangen. Es wurde immer schwieriger, mit jedem Versuch, er schwitzte, seine Hände waren feucht, sein Herz raste. Aber irgendwann ertönte doch ein Freizeichen, ein Klicken, und dann ein blechernes, schepperndes Lachen, höhnisch und hohl, wie aus einem dieser Lachsäcke, die es in seiner Kindheit als Scherzartikel gegeben hatte. Es hörte auch nicht auf, als er schon längst den Hörer auf die Gabel geschmettert hatte.
Keuchend fuhr Leander hoch. Das Bett neben ihm war leer, und es roch nach Kaffee. Es war Sonntag, und alles war in Ordnung. Nein, erkannte er im endgültigen Erwachen. Nichts war in Ordnung. Lucie war verschwunden und da war dieser Brief.
Das Aufwachen war immer der schlimmste Moment des Tages. Oft gab es zwei, drei Sekunden, in denen er sich wohlfühlte, so wie früher, als Kind, wenn er Ferien hatte und ein Tag voller Versprechungen und Verheißungen vor ihm lag. Doch im nächsten Moment sickerte die Erkenntnis in sein Hirn, traf ihn jedes Mal mit neuer Wucht, und dann wünschte er sich nur noch, irgendwann einmal in einem anderen Leben aufzuwachen.
Er würde anrufen, natürlich würde er anrufen. Er hatte Angst davor. Angst, dass wirklich dieses Lachen ertönen könnte, so wie in seinem Traum. Unsinn! Aber was, wenn es die Nummer gar nicht gab und er nie erfahren würde, wer hinter dem Brief steckte? Noch eine Ungewissheit in seinem Leben würde er nicht ertragen.
Tinka kam herein, sie hatte eine Tasse Kaffee in der Hand, die sie auf Leanders Nachttisch stellte. Sie kroch zurück ins Bett und kuschelte sich an ihn, während er die Tasse in die Hand nahm, den Duft des Kaffees einsog und ihn dann in langsamen Schlucken trank.
Tinka schmiegte den Kopf an seine Brust, ihre Hände strichen über seinen Bauch. Er stellte seinen Kaffee zur Seite und überließ sich Tinkas Händen. Ihm war jetzt gar nicht nach Sex zumute. Aber man musste kein Prophet sein, um sich auszumalen, welche Erklärung sich Tinka zurechtphantasieren würde, sollte er jetzt kneifen. Verdammt, warum hatten ihnen Eva und ihr Dandy von einem Ehemann ausgerechnet zu diesem völlig unpassenden Zeitpunkt über den Weg laufen müssen?
Vielleicht würde es helfen, an Eva zu denken? An den Kirschgeschmack ihrer Lippen. Ihre weichen, kleinen Brüste, die einen anziehenden Gegensatz zu ihren straffen Muskeln bildeten...
Selma Valkonen legte die Hände um die Porzellanschale mit dem Milchkaffee und genoss die Schweigsamkeit von Sir Henry, der ihr gegenüber am Küchentisch saß. Er protestierte auch nicht, als sie sich eine Zigarette ansteckte. Sie war noch nicht geduscht und trug einen viel zu großen Männerbademantel mit verwaschenen Streifen in Taubenblau und Rot. Er gehörte ihrer Mitbewohnerin Anna, die ihm aus irgendeinem Grund den Namen Amundsen gegeben hatte. Anna absolvierte gerade ein
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