Töte, wenn du kannst!: Kriminalroman (German Edition)
Auslandssemester in Singapur, und Amundsen hätte allein den halben Koffer ausgefüllt, also hatte er zurückbleiben müssen. Eigentlich hatte sich Selma aus Kostengründen während Annas Abwesenheit einen Ersatz-Mitbewohner suchen wollen. Bei der Wohnungsnot, die unter den Studenten herrschte, hätte es sicher eine große Auswahl an Bewerbern gegeben. Aber am Ende hatte sie sich nicht dazu durchringen können, sich an einen fremden Menschen zu gewöhnen, der nur für ein paar Monate blieb und dann wieder verschwand. Es erschien ihr zu aufwendig. Also hatte sie es sein gelassen und genoss die Alleinherrschaft über ihr Reich, das sie nur mit Sir Henry teilte. »Dass du mir ja nett zu ihm bist«, hatte ihr Anna eingeschärft und ihr außerdem das Versprechen abgerungen, nicht so viel zu pokern. Aber zweimal die Woche war ja nicht viel.
Zwischen einem Schluck Milchkaffe und einem Zug von der Zigarette sagte Selma zu Sir Henry: »Und es wundert mich nicht, dass kaum einer im Dezernat was mit ihm zu tun haben will. In der ersten Woche hat er kaum ein Wort mit mir geredet. Dachte wahrscheinlich, er kann mich so einfach wegekeln. Dabei kommt mir das sehr gelegen, du weißt ja, ich kann Leute, die zu viel quatschen, nicht ausstehen. Am Freitag habe ich ihn gefragt, ob er mit der blonden Tussi von nebenan was laufen hat – ich habe natürlich nicht Tussi gesagt, sondern Malin, sie heißt Malin. Und sie ist auch keine Tussi, trotz ihrer Silberstimme. ›Das geht dich einen Scheißdreck an‹, hat er zu mir gesagt. Wortwörtlich!« Selma zog erneut an ihrer Zigarette und blies den Rauch mitten in Sir Henrys stoisches, blasses Gesicht. »Ich kann verstehen, dass er ’ne Macke weghat. Immerhin ist ja auch sein Kind verschwunden, seit acht Jahren schon. Muss furchtbar sein, so was. Natürlich darf er das nicht an mir auslassen, völlig klar. Aber ich nehme das nicht persönlich, er lässt es nämlich an jedem aus. Vielleicht erinnere ich ihn an seine Tochter. Sie wäre jetzt vierundzwanzig, also nur ein bisschen jünger als ich. Deshalb nimmt er mich wohl auch nicht ernst. Sie hätten jemand Älteren zu ihm schicken sollen. Oder gar niemanden. Der kommt schon alleine klar. Zumindest denkt er das.« Sie lachte leise auf. »Du hättest sehen sollen, wie der mich angeschaut hat, in Gulldéns Büro: wie eine Marienerscheinung. Wie er aussieht? Och, eigentlich ganz gut, ja, doch, für sein Alter. Hat immerhin noch alle Haare und Zähne, ja, bisschen grau sind die Haare schon, aber sonst...« Sie grinste. »Mit der Mode hat er’s ja nicht gerade, aber er hat Bernsteinaugen, wie ein Hund, und schöne Hände. Und seine Stimme ist grün. Ein gedämpftes Grün, wie Salbeiblätter. Er muss nur aufpassen, dass er nicht zu fett wird und aussieht wie ein Hinkelstein... Nein, ich bin nicht in ihn verknallt, und ich habe auch keinen Vaterkomplex, also wirklich, ich bitte dich!« Selma drückte ihre Zigarette aus. »Ich geh duschen.« Amundsen auf dem Stuhl zurücklassend, stand sie auf und ging ins Bad. Sir Henry blieb regungslos und schweigend sitzen. Alles andere hätte Selma auch sehr gewundert. Mit einer Schaufensterpuppe zu sprechen fand sie nicht allzu abgedreht, schließlich redeten die Leute ja auch mit ihren Pflanzen. Wirklich eigenartig wäre nur, sollte das Ding eines Tages antworten.
Leander sagte, er hätte mal wieder Lust auf frische Brötchen. Tinka fand die Idee gut.
Er nahm das Rad. In seiner Jacke steckten sein Handy und die Nummer, die er von dem Brief abgeschrieben hatte. Er erledigte den Einkauf, dann bog er in eine ruhige Seitenstraße, stieg ab und tippte die Ziffern ein. Es klingelte und klingelte. Niemand hob ab. Hatte er sich verwählt? Er versuchte es noch einmal. Wieder klingelte es ins Leere.
Leander starrte das Display an. Was jetzt? Nochmals anrufen? Oder später? Er zuckte zusammen, als das Handy zwei kurze Pieptöne von sich gab. Eine SMS : Montag, siebzehn Uhr, Nähe Google-Maps 57643739, 11863021, keine Polizei!
Leander hatte Mühe, das Telefon in seiner Jackentasche zu verstauen, ohne es fallen zu lassen. So rasch, wie die SMS gekommen war, musste sie vorbereitet gewesen sein. Warum hatte dann der Treffpunkt nicht schon in dem Brief gestanden? Dumme Frage: Man wollte testen, ob er angebissen hatte. Was war das für ein Spiel? Wenn jemand wusste, wo Lucie war, warum sagte er es dann nicht einfach? Das würde doch jeder normale Mensch tun. Ging es um Geld? Das würde heißen, dass Lucie noch am Leben
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