Töte, wenn du kannst!: Kriminalroman (German Edition)
geholt. Angeblich war immer alles gut gelaufen, aber man hatte seiner Mutter jedes Mal angemerkt, wie anstrengend die Tage für sie gewesen waren.
Nachdem Tinka über die Zustände in Haga und den Mangel an bezahlbaren Mietwohnungen in Göteborg geklagt hatte, hatte ihr Vater kurzerhand einen Makler beauftragt, »passende Objekte« ausfindig zu machen. Einen Tag lang hatten sie zusammen Häuser und Wohnungen besichtigt. Sie waren allesamt weit jenseits dessen, was sich Tinka und Leander jemals aus eigener Kraft hätten leisten können. Aber es war Leander zwischenzeitlich egal geworden. Die große Katastrophe ihres Lebens hatte alles relativiert, es kratzte nicht mehr an seinem Ego, Geld von seinem Schwiegervater anzunehmen, wenn es seiner Frau dadurch besser ging.
Tinka hatte sich schließlich für eine großzügige Altbauwohnung mit Stuckdecken und Parkett in der Viktoriagatan entschieden, nachdem auch Leander versichert hatte, dass ihm die Wohnung gefalle. Wem hätten zweihundert Quadratmeter schick renovierter Altbau in einer der besten Lagen Göteborgs nicht gefallen? Wenn Leander eines inzwischen begriffen hatte, dann, dass es egal war, wie und wo man lebte: Das Unglück lauerte überall.
Holger Nordin war kein Kleingeist. Er hatte nicht viel Aufhebens darum gemacht und das Finanzielle diskret erledigt. Im Gegenteil, man merkte ihm die Freude an, ihnen helfen zu können. Es war eine aufrichtige Freude, ohne jede Häme, und zum ersten Mal kam Leander der Gedanke, dass er Tinkas Vater mit seinem Stolz und der jahrelangen Weigerung, am Reichtum der Familie Nordin teilzuhaben, gekränkt hatte. Als er ihnen die Schlüssel zu ihrer neuen Wohnung übergab, war der alte Herr für einen kurzen Moment sentimental geworden. Er hatte Leander an sich gedrückt und mit Tränen in den Augen gesagt, er habe zwar eine Enkeltochter verloren, aber einen Schwiegersohn gewonnen. Das war der Beginn ihrer Annäherung gewesen.
Die Post bestand aus drei Sendungen. Zwei waren an Tinka adressiert; bunte Umschläge, wie sie für Geburtstagskarten üblich waren. Der dritte Brief war ein fensterloses weißes Kuvert, adressiert an Leander Hansson . Kein Absender. Leander, den es nicht danach drängte, so rasch wieder hinauf zu kommen, riss den Brief an Ort und Stelle auf. Zum Vorschein kam ein zweimal gefaltetes A4-Blatt mit der gedruckten Botschaft:
Willst du deine Tochter wiederhaben?
Ich weiß, wo Lucie ist.
Die dritte Zeile bestand aus einer Handynummer. Leander schoss das Blut in den Kopf. Seine Beine drohten nachzugeben, und sein Magen krampfte sich zusammen, ähnlich wie an dem Tag, der sein Leben in zwei Hälften gespalten hatte. Seitdem war keine Stunde vergangen, in der Leander nicht an Lucie gedacht hatte; sich fragte, was geschehen war, ob sie noch lebte oder längst tot war, und wer sie ihnen weggenommen hatte.
Er lehnte sich gegen die Wand des Hausflurs und starrte die Briefkästen an. Lange. Schließlich steckte er den Brief zurück in den Umschlag und stieg die Treppen wieder hinauf, mühsam, als müsse er durch Wasser gehen.
»… finde nicht, dass ich mich entschuldigen muss. Wo ist er überhaupt?«, hörte er seine Schwiegermutter sagen, als er sich unbemerkt über den Flur in sein Arbeitszimmer schleppte.
Stühle rückten.
Er sollte zu ihnen gehen, sie verabschieden, sich entschuldigen, wenigstens bei Holger. Sonst würde Tinka noch ärgerlicher werden, als sie es bestimmt ohnehin schon war. Aber es ging nicht. Er konnte einfach nicht. Er glaubte, erst wieder klar denken zu können, wenn sie endlich fort waren. Nachdenken über den Brief: ob es ein böser Scherz war und wer dahinterstecken könnte. Oder ob tatsächlich ein Funken Hoffnung bestand.
Auf jeden Fall, beschloss Leander, sollte Tinka erst einmal nichts davon erfahren. Sie würde sich genauso aufregen wie er, und das wollte er ihr ersparen. Er öffnete die Schublade seines Schreibtischs und legte den Brief unter einen Packen Kontoauszüge.
Stimmen auf dem Flur, die Wohnungstür fiel zu. Stille breitete sich aus. Leander saß noch immer wie festgeklebt auf seinem Schreibtischsessel. Er schaute aus dem Fenster. Es dämmerte. Ein Windstoß riss gelbe Blätter von der Kastanie im Hinterhof. Bald schon jährte sich zum sechsten Mal Lucies Geburtstag.
»Ich geh ins Bad, vergiss nicht, dass wir für halb acht einen Tisch reserviert haben«, rief Tinka in Richtung Arbeitszimmer, wohin Leander sich verkrochen hatte. Wie ein kleiner Junge, der etwas
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