Töte, wenn du kannst!: Kriminalroman (German Edition)
angestellt hat, dachte sie.
»Ist gut!«, kam es rasch. Seine Erleichterung über den offenbar nicht stattfindenden Streit war sogar durch die geschlossene Tür deutlich spürbar.
Dabei hatte sich Tinka im Stillen amüsiert über Leanders Antwort auf die dämliche Frage ihrer Mutter. Sie mochte Leanders Zynismus, solange nicht sie selbst das Ziel seiner Giftpfeile war. Und schließlich hatten sie ja auch Gretas nicht enden wollende Hymnen auf Klein William, ihren Neffen, über sich ergehen lassen müssen. Auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil, dachte Tinka.
Sie drehte die Dusche auf und genoss die Wärme des Wasserstrahls. Kleine Momente des Wohlbefindens schaffen, das war Tinkas Überlebensstrategie. Was sie in der ersten Zeit nach Lucies Verschwinden nicht für möglich gehalten hatte, gelang ihr allmählich immer besser: ihrem Leben kleine Zeitabschnitte abzutrotzen, in denen sie nicht an Lucie dachte. Minuten nur, manchmal sogar eine ganze Stunde. Momente, in denen sie sich an irgendetwas erfreute, und sei es noch so banal: ein Vogel auf dem Balkongeländer, ein Lied im Radio, ein Film, ein Erfolg bei der Arbeit.
Anfangs war Tinka überzeugt gewesen, dass ihre Ehe daran zerbrechen würde. Wie sollte Leander ihr jemals verzeihen können, dass sie an jenem Tag so völlig versagt hatte. Wie sollte sie mit einem Mann zusammenleben, dem sie das Schlimmste angetan hatte, was man einem Menschen antun konnte? Er musste sie doch hassen! Ihre Schuldgefühle waren so groß, dass sie sich anfangs sogar verbot, um Lucie zu trauern. Sie fand, dass sie es nicht verdient hatte, sich dem Trost der Traurigkeit hinzugeben, so als wäre Lucie an einer Krankheit oder bei einem Unfall gestorben. Jeden Morgen wachte sie mit der Frage auf, was sie diesem Leben eigentlich noch abgewinnen sollte. Etwa die lächerliche Hoffnung, dass Lucie eines Tages wieder auftauchen würde? Sie fühlte sich leer, eine tote Hülle, die aus irgendwelchen Gründen noch morgens aufstand, sich wusch, anzog, aß, trank, funktionierte.
Doch irgendwann hatte das Leben wieder nach ihr gegriffen. Plötzlich hatte sie gemerkt, dass es ihr wieder schmeckte, dass sie sogar wieder lachen konnte. Unbewusst hatte sie einen Schritt nach dem anderen getan. Der größte war gewesen, wieder arbeiten zu gehen. Leander hatte sie darin bestärkt. Dennoch hatte Tinka in den ersten Wochen das Gefühl gehabt, als würde sie damit einen Verrat an Lucie begehen. Aber auch das hatte sich gelegt, und der Umzug hierher war eine gute Entscheidung gewesen. Dieses Mal hatten sie sorgfältig auf ihre Umgebung geachtet. Die Mitbewohner des Hauses waren ältere Leute, aber noch nicht so alt, dass sie bald sterben und jungen Familien Platz machen würden. Bei einigen kamen allerdings schon die ersten Enkel zu Besuch, und dass die Frau aus dem ersten Stock mit vierzig noch ein Kind bekommen würde... Hoffentlich würden die bald wegziehen, raus, ins Grüne!
Hin und wieder ließ Leander anklingen, ob sie nicht über ein neues Kind nachdenken sollten. Aber Tinka erwiderte dann jedes Mal schroff, sie brauche kein Therapiekind.
Nein, Tinka wollte kein Kind mehr. Sie hatte das alles unterschätzt: die ständige Präsenz, die dauernde Müdigkeit, das immerwährende Fremdbestimmtsein, das Reduziertwerden auf ihren Körper. Eine Lucie-Versorgungseinheit hatte sie sich im Geheimen genannt. Sie hatte nicht gejammert, das war nicht ihre Art, schließlich ging das Millionen Frauen so, seit Tausenden von Jahren. Das würde vorbeigehen, irgendwann. Als Mutter hatte man selbstlos hinter der Aufgabe zu verschwinden. Dann würde man irgendwann den Lohn der Mühen einfahren. Die kleinen Glücksmomente, wenn Lucie endlich einmal zufrieden war und lächelte, hatten all die Anstrengungen jedoch nicht aufwiegen können.
Lucies Lächeln.
»Sie lächelt mich nie an. Dich ja, aber nie mich. Ich glaube, sie mag mich nicht«, hatte Tinka geklagt, als Lucie etwa ein Jahr alt war. »Das ist nicht wahr«, hatte Leander erwidert. »Wenn du den kleinen Affen nachmachst, lacht sie sich halb kaputt.« – »Sie lacht den Affen an, nicht mich«, hatte Tinka geantwortet und Leander hatte geschwiegen.
Tinka erkannte, dass ihre Erwartungen an die Mutterschaft offenbar zu hoch gewesen waren. Dieser verklärte Ausdruck auf den Gesichtern anderer Mütter hatte sich bei ihr nie eingestellt. Sie wusste nicht, warum. Aber dieses Experiment wiederholen? Nein.
Und da war noch etwas: Sie hatte es bis jetzt noch nie
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