Tür zugeknallt und Leander hatte ihr nachgerufen: »Nichts gegen Mikael Niemi!«
Er musste lächeln und den Kopf schütteln, als er sich jetzt daran erinnerte. Überhaupt – wegen was für Nichtigkeiten sie sich früher gefetzt hatten!
Es hatte noch keiner von ihnen ausgesprochen und es würde wohl auch nie geschehen, aber ihre Ehe verlief in ruhigeren Bahnen, seit Lucie weg war. Als habe der Schmerz über den Verlust ihres Kindes die alten Empfindlichkeiten überdeckt und sie beide unangreifbar gemacht gegenüber den Zumutungen, die das Leben sonst noch bereithielt.
Während der vergangenen vier Jahre hatte Leander manchmal darüber nachgedacht, wie es wäre, wenn er und Tinka sich trennen würden und jeder einen neuen Partner hätte. Neue Partner, neue KinderWürde es ihnen dann gelingen, den Schmerz um Lucie zu überwinden? Sie hatten sogar schon darüber gesprochen – rein theoretisch nur. Tinka war der Meinung gewesen, dass man so etwas nicht einfach abschütteln konnte, und er hatte ihr recht gegeben, es war bei der Theorie geblieben.
Aus der Küche begann es köstlich zu duften. Immer wieder ging er hinüber ins Wohnzimmer, trat ans Fenster und hielt Ausschau nach dem Fahrrad des Postboten. Wenn er ein Foto schickt, dachte er, kann man damit zur Polizei gehen. Im Zeitalter der social networks hätte man mit einem aktuellen Foto von Lucie sicher gute Chancen, dass sie gefunden wurde. Er hypnotisierte sein Handy, aber es blieb stumm. Schließlich setzte er sich ins Arbeitszimmer und fuhr den Computer hoch. Er konnte ja wenigstens versuchen, etwas zu arbeiten. An seiner Besprechung von Torbjörn Flygts neuem Buch könnte er noch ein wenig feilen, und er brauchte noch einen Text für seine misanthropische Kolumne Neues aus dem Funkloch . Er hatte acht neue E-Mails auf seiner SR -Adresse. Eine kam von
[email protected] .
»Tinka!«
Sie kam ins Zimmer geschossen und mit ihr ein Duft nach Zimt und Butter. Sie wischte die bemehlten Hände an ihrer Jeans ab und sah ihm über die Schulter, während er die Mail öffnete. Sie enthielt lediglich einen Link, der aus einem Mix von Zahlen und Buchstaben bestand. Leander klickte ihn an.
Es war ein Video ohne Ton. Es begann verschwommen, trotzdem erkannte man die Umrisse mehrerer Menschen. Dann wurde gezoomt auf ein Mädchen mit glattem braunem Haar. Man sah sie nur von hinten, die oberen Haarsträhnen waren mit einem roten Haargummi zusammengefasst. Es musste warm sein, sie trug eine olivgrüne Hose, die bis zu den Waden reichte, robuste Sandalen und ein hellblaues T-Shirt. Jetzt bewegte sie sich von der Kamera weg, und ihr Körper, schlank, aber nicht dünn, warf einen kurzen Schatten. Ihr Arm war ausgestreckt, als zöge jemand daran. Dann, plötzlich, blieb sie stehen und drehte sich um. Da waren der Mund mit der leicht aufgeworfenen Oberlippe und die runden Augen. Sie wirkten nicht mehr so groß wie früher, doch der Ausdruck darin und die Art, wie sie den Kopf hielt, waren typisch für Lucie, Leander erinnerte sich erst jetzt, in diesem Moment, wieder daran. Sie schaute interessiert auf etwas, das hinter der Kamera sein musste. Und dann blickte sie mitten ins Objektiv. Eine Welle schwappte durch seinen Körper, ihm war, als sähe ihm seine Tochter direkt in die Augen. Hinter sich hörte er Tinka scharf die Luft einziehen. Die Stirn des Mädchens kräuselte sich, so wie früher schon, wenn Lucie etwas missfiel. Dann drehte sie den Kopf weg, die Aufnahme verwackelte und der Bildschirm wurde schwarz.
Leander spürte, wie sein Herz raste, und sein Mund fühlte sich an, als wäre er voller Sand. Tinka hatte die Hände vor die Lippen gepresst, ein gurgelnder Laut drang aus ihrer Kehle.
Sie sahen sich an. Dann starrte Leander wieder auf den dunklen Bildschirm. Er ballte die Fäuste. Lucie war am Leben, und es gab ein Video! Man konnte Standbilder daraus kopieren und in die ganze Welt schicken, man konnte das Video in den Nachrichten zeigen, auf YouTubeBei der Polizei gab es sicher Spezialisten, die aufgrund der älteren Bilder und des Videos herausfinden konnten, ob das Mädchen tatsächlich Lucie war. Forensische Anthropologen. Das war doch der Fachausdruck für diese Leute. Von wegen, jemanden umbringen, von wegen »keine Polizei«!
»Noch mal!« Tinka, ihr heißer Atem streifte sein Ohr. Sie hatte sich den Klappstuhl aus der Ecke herangezogen und saß in gekrümmter Haltung darauf, als hätte sie Magenschmerzen.
Er öffnete die Mail erneut und klickte