Töte, wenn du kannst!: Kriminalroman (German Edition)
Zeit geworden für etwas Abstand, ein wenig Freiraum. Denn wenn Lucie ihr Trotzgesicht aufsetzte – gesenkter Kopf, vorgeschobene Unterlippe, zusammengezogene Augenbrauen und ein böser Blick von unten herauf –, dann spürte Tinka manchmal Hass in sich aufsteigen. Ebenso während der Wutanfälle Lucies, die diesem Ausdruck häufig folgten, sobald Lucie nicht bekam, was sie wollte. Wie ein bösartiger Troll, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, sie zu triezen und ihr das Leben zu verderben, war Lucie ihr in solchen Momenten vorgekommen, und manchmal hatte Tinka aus dem Zimmer gehen und warten müssen, bis sie sicher sein konnte, sich wieder im Griff zu haben. Sie durchpflügte die einschlägige Ratgeberliteratur, in der von Phasen die Rede war und von der Entdeckung des eigenen Ichs. Es geht vorbei! , war Tinkas heimliche Durchhalteparole gewesen. Nein, sie hatte sich nichts vorzuwerfen, sie hatte sich immer unter Kontrolle gehabt. Doch sie hatte sich zusehends gefürchtet vor dem, was geschehen könnte, sollte sie doch einmal die Beherrschung verlieren.
Wenn sie und Leander heute von Lucie sprachen, dann von ihrem Lachen, ihren großen Augen, ihrem seidigen Haar, ihren ersten tapsigen Schritten. Auch auf den Fotos sah man Lucie lachend oder mit einem aufmerksamen, neugierigen oder nachdenklichen Ausdruck. Aber Tinka wusste um die Unzuverlässigkeit der Erinnerung, und mittlerweile hatte sie das Gefühl, dass sie sich an eine Lucie erinnerten, die so gar nicht existiert hatte. Lucies Lachen verblasste in Tinkas Gedächtnis immer mehr, dafür blieben andere Szenen in aller Schärfe gegenwärtig: Jener Sonntag im April, einer der ersten warmen Frühlingstage, die Welt war voller Glanz, sie waren ein junges Paar mit einer reizenden Tochter, das am Strand spazieren ging. Aber Lucie hatte alles ruiniert mit ihrer fortwährenden Quengelei. Sie hatte rumgeplärrt, war trotzig gewesen und durch nichts zufriedenzustellen. Damals hatte Tinka, entsetzt über sich selbst, den Gedanken verdrängt, dass ihr Leben, ihre Ehe, ohne Lucie schöner gewesen war.
Das Video hatte etwa zehn, zwölf Sekunden gedauert und während der kurzen Zeit, in der man ihr Gesicht gesehen hatte, war Tinka nicht sicher gewesen, ob das Kind tatsächlich Lucie war. Ja, es könnte Lucie sein, hatte sie gedacht. Aber beschworen hätte sie es nicht. Man sieht viel, wenn man etwas sehen will. Das Gesicht war ihr zu voll vorgekommen, hatte nichts mehr von einem untergewichtigen Mausmaki gehabt, und diese geschürzte Oberlippe war bei Kindern keine Seltenheit. Erst in den letzten Sekunden der Aufnahme hatte sie ihre Meinung geändert. Als das Mädchen etwas sah oder hörte, was ihr missfiel. Dieses verärgerte Kräuseln der Stirn, der Ausdruck in den Augen – den erkannte sie noch immer.
Tief im Herzen wusste Tinka genau, weshalb sie den Buggy neben dem Marktstand hatte stehen lassen, auch wenn sie in dem Moment gedankenlos und keinesfalls vorsätzlich gehandelt hatte: Sie hatte sich, für eine kurze Weile nur, Lucies böser Macht entziehen wollen, die sie auf ihr Leben hatte.
Selma saß in der Straßenbahn nach Biskopsgården und fluchte in Gedanken über ihre eigene Dummheit und über Forsberg und seine Geheimniskrämerei.
Wieder erklomm sie die fünf Treppen, die sie durch die Welt bizarrer Gerüche führten. Zwei Jungs, dreizehn, vierzehn, kamen ihr entgegen.
»Ey, mein Freund will deine Telefonnummer!«, rief der ältere, und sein Kumpel, wohl gerade im Stimmbruch, krächzte: »Und der da will dich ficken!«
»In Ordnung«, sagte Selma, öffnete kurz ihre Jacke und gönnte den beiden einen Blick auf ihre umgeschnallte Dienstpistole.
»Scheiße, Mann, die ist von den Bullen!« Erdbebenartig polterten die beiden die Treppen hinunter.
Selma klopfte wieder und wieder, aber niemand öffnete. War Frau Bobrow bei der Arbeit? Bei welcher? Egal. Vergeudete Zeit! Verärgert schlug Selma mit der Faust gegen die Tür und war überrascht, als diese nachgab und aufsprang. Selma trat in den Flur, die Hand am Holster mit der Waffe.
»Frau Bobrow?«
Es kam keine Antwort. Bei einem so lausigen Schloss kann man nicht einmal von einem Einbruch reden, sagte sich Selma und rief erneut »hej« und den vollen Namen der Russin, aber alles blieb still. Nur ein paar Fliegen schwirrten an ihr vorbei.
Selma huschte in die Wohnung und machte die Tür hinter sich zu. Wenn Forsberg ohne Durchsuchungsbeschluss in fremde Sommerhäuser eindringt, dann kann ich ja wohl auch
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