Töte, wenn du kannst!: Kriminalroman (German Edition)
Ich müsste die beiden mal wieder einladen, dachte Tinka. Sie sind meine Familie, auch wenn Sanna eine dumme Kuh ist.
Der winzige Norwegerpullover! Lucie hatte ihn nur ein Mal getragen, der Halsausschnitt war zu eng gewesen, es hatte Tränen beim An- und Ausziehen gegeben.
Vielleicht willst du Lucie ja gar nicht zurück
Leanders Worte hatten sie verletzt. Kannte er sie so wenig? Wusste er denn nicht, dass Tinka stets zu Ende bringen wollte, was sie begonnen hatte?
Lucie war ein Wunschkind gewesen, und zwar in erster Linie von Tinka. Sie hatte sich vorgestellt, dass ein Kind die Beziehung zwischen ihr und Leander für immer besiegeln würde, mehr noch als eine Heirat. Mit einem gemeinsamen Kind wären ihre Gene für immer vereint, erst dann wären sie eine Familie. Als Lucie dann auf der Welt war, war für Tinka das Glück anfangs perfekt gewesen. Das Gefühl war in seiner Intensität und Ausschließlichkeit vergleichbar mit dem Verliebtsein, denn es zählte nur noch eines: Lucie. Doch ebenso wie das Verliebtsein hielt dieser Zustand nur ein paar Wochen an. Dann kamen die Hormone wieder ins Gleichgewicht und es begann das tägliche Ringen um Freiräume, Lebensfreude und Zeit. Es kam ihr manchmal vor, als wäre der Kreißsaal eine Art Zeitmaschine, die sie in die Fünfzigerjahre katapultiert hatte: zurück an Heim und Herd.
Was bleibt von Romantik und Leidenschaft, wenn der Alltag Einzug ins Leben zweier moderner, auf Selbstverwirklichung bedachter Menschen mit einem nicht gerade einfachen Kleinkind hält?, hatte sich Tinka immer häufiger gefragt. Was wurde aus der Liebe, wenn die eigene Identität verteidigt und die Liebe immer wieder neu gesucht werden musste?
Manchmal beschlich Tinka der Verdacht, der sich in einigen Momenten zur Gewissheit verdichtete, dass sie Leander mehr liebte als ihr Kind. Sie fand das erschreckend, fand, dass das nicht sein durfte. Mutterliebe, und zwar bedingungslose, hatte doch gefälligst über allem zu stehen. Das las man in Büchern, das sah man in Filmen. Das war die Norm. Und so wollte auch Tinka sein: eine normale, liebevolle Mutter. Keine Helikopter-Mutter, die ständig nur um ihr Kind kreiste, aber auch auf gar keinen Fall so wie Greta, die die Erziehung ihrer Kinder weitgehend in die Hände einer langen Reihe wechselnder Kindermädchen gelegt hatte. »Was wollt ihr denn, ihr seid doch beide bestens geraten«, hatte sie Tinka geantwortet, als die ihrer Mutter eines Tages vorgeworfen hatte, sie habe es sich verdammt leicht gemacht. Dem war schwer zu widersprechen gewesen.
Während das Verhältnis zwischen Greta und Tinka eine immerwährende Gratwanderung war, vergötterte Tinka ihren Vater mit all seinen Schrullen und Verschrobenheiten, und umgekehrt war auch Holger Nordin in seine Tochter völlig vernarrt. Natürlich liebte er auch seinen Sohn, seinen Erstgeborenen, Gunnar. Aber diese Liebe war an Bedingungen geknüpft: Es war ihm wichtig gewesen, einen Sohn zu haben, der die Geschäfte übernahm, und nun, da Gunnar darin zu versagen schien, konnte sich dieser der Liebe seines Vaters nicht mehr ganz sicher sein. Gunnar stand seit jeher für die Pflicht, aber Tinka war die Kür, seine Tochter liebte Holger Nordin bedingungslos. Tinka mit der Aufgabe zu belasten, eine tragende Rolle im Konzern zu spielen, wäre ihm nie in den Sinn gekommen. Er war noch einer vom alten Schlag, der fand, dass die Businesswelt nicht zu Frauen passte. »Ihr seid Opfer einer Gesellschaft, die euch einredet, ihr bräuchtet zu eurem Kampf mit Kind und Küche noch einen anstrengenden Job, um euch selbst zu verwirklichen«, pflegte er zu sagen. Davon abgesehen, hatte Tinka nie Ambitionen in dieser Richtung gezeigt. Sie war immer schon an Naturwissenschaften interessiert gewesen, und ihr Vater hatte sie darin bestärkt. Er selbst hatte sich als Junge für Biologie begeistert. In Tinkas altem Zimmer bei ihren Eltern hingen noch die Glaskästen mit der Schmetterlingssammlung, die er ihr vererbt hatte.
Nein, Tinka wollte nicht so sein wie ihre Mutter.
Andererseits hatte sie sich nach Lucies Geburt nicht mehr wie eine eigenständige Person gefühlt. Sie schien nur noch im Zusammenspiel mit Lucie zu existieren, als wären sie ein einziger Organismus, verteilt auf zwei Körper. Lucie bestimmte ihren Tagesablauf, Lucie bestimmte, wann Tinka aß, wann sie schlief, und vor allen Dingen, wann nicht.
Wie hatte sie damals dem Tag, an dem Lucie in den Kindergarten kommen sollte, entgegengefiebert. Es war höchste
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