Töte, wenn du kannst!: Kriminalroman (German Edition)
ein paar Kinderzeichnungen fotografieren! Frau Bobrow wird nicht mal merken, dass ich hier war.
Im Kinderzimmer war es warm, und es roch muffig. Schon im Flur war ihr das aufgefallen. Als würde irgendwo ein zu lange nicht geleerter Mülleimer vor sich hin gammeln.
Die zwei Zeichnungen hingen noch über dem Bett, auch die Puppen und die Stofftiere waren noch da, aber der Bettbezug fehlte. Die Schranktüren standen offen, die Fächer waren vollkommen leer. Auch keine Sachen von Klein Alexander. In dessen Bett lag nur noch die fleckige Matratze, auf der ein paar Fliegen herumkrochen. Selma schüttelte sich, sie hasste Fliegen. Sie untersuchte den Stapel Schulbücher neben Valerias Bett. Unter den Büchern waren ein paar lose Blätter. Kinderzeichnungen. Selma sah sie durch. Die Zeichnungen schienen älter zu sein als die an der Wand, der Strich wirkte grober und unbeholfener. Selma bemerkte ein Blatt, das unter das Bett gerutscht war, hob es auf und pustete die Wollmäuse weg. Ein schwarzes Auto. Es hatte wohl auch an der Wand gehangen, in den Ecken waren Löcher von Reißzwecken. Sie rollte das Bild zusammen und steckte es in die Innentasche ihrer Jacke, ebenso die zwei von der Wand.
Von einer Ahnung getrieben, warf Selma einen Blick ins Bad. Kein Becher mit Zahnbürsten mehr. Der Schrank über dem Waschbecken war ausgeräumt und auch der Wäscheeimer war leer.
»Verdammte Scheiße!«
Eine nackte Schaumstoffmatratze, ein abgewetztes Sofa und eine leere Kleiderstange waren alles, was es noch in Frau Bobrows ehemaligem Wohn- und Schlafzimmer zu sehen gab. Blieb noch die Küche. Selma öffnete die Tür. Der Gestank traf sie wie eine Faust.
Hier war nichts weggekommen, im Gegenteil: Auf dem, was auf dem Küchentisch lag, krabbelten unzählige, grün schillernde Fliegen. Sie fühlten sich gestört und stoben auf, als Selma näher kam, und inmitten des Fliegenschwarms blickte Selma in die toten Augen von Ivan Krull.
Als Leander nach Hause kam, fand er Tinka im Gästezimmer zwischen einem Haufen Kinderkleidung und Stofftieren am Boden sitzend. Ihr Kopf lag auf den Knien, das blonde Haar verdeckte ihr Gesicht wie ein Vorhang. Er näherte sich, vorsichtig, als wäre sie ein fremdes Tier, von dem man nicht wusste, wie es reagieren würde, wenn man ihm zu nahe kam.
»Die werden ihr nicht mehr passen«, sagte er.
Sie blickte auf. Ihre Augenpartie war ein wenig angeschwollen, aber jetzt versuchte sie ein Lächeln. »Manche Sachen hatte ich schon völlig vergessen«, sagte sie. »Das T-Shirt mit dem kleinen Schaf zum Beispiel. Das haben wir ihr in Griechenland gekauft.«
»Sie wollte es gar nicht wieder ausziehen.«
Kein Wort über die Pistole.
Er reichte ihr die Hand, und sie ließ sich von ihm in die Höhe und in seine Arme ziehen. So standen sie eine ganze Weile da, Tinka hatte den Kopf an seine Schulter gelegt, und Leander rieb ihr sanft über den Rücken. Eine Welle der Zärtlichkeit überflutete ihn, und er bereute alles, was er ihr jemals zugemutet hatte. Sie verdiente es, glücklich zu sein, und es war seine Aufgabe, dafür zu sorgen.
»Mein Vater hat angerufen«, sagte Tinka.
»Du hast ihm doch nichts gesagt?«
»Natürlich nicht.«
»Gut.« Das hätte noch gefehlt, dass der alte Herr da auch noch mitmischte.
»Er wollte nur wissen, wie es uns geht und ob du dich wieder beruhigt hast.«
»Beruhigt?«
»Wegen Samstag. Er hat sich für Greta entschuldigt.«
» Ich muss mich entschuldigen. Zumindest bei ihm. Ich ruf ihn an«, versprach Leander.
Samstag. War das wirklich erst ein paar Tage her, Tinkas Geburtstag und der erste Brief des Erpressers?
Sie hatten darüber spekuliert, ob ein Mann oder eine Frau dahintersteckte. Intuitiv hatten beide immer von »ihm« gesprochen, obwohl es durchaus auch eine Frau sein könnte, wie sie sich gegenseitig versicherten. Tinka war mit dem konservativen Frauenbild ihres Vaters groß geworden, hatte später aus Opposition ein wenig mit dem Feminismus sympathisiert, aber nachdem sie fünf Jahre lang unter einer Abteilungsleiterin gearbeitet hatte, hatte sie sich endgültig von dem Gedanken verabschiedet, dass Frauen die sanftmütigeren oder gar besseren Menschen wären. Leander hatte das ohnehin noch nie geglaubt. »Aber ich möchte ihm oder ihr jetzt nicht auch noch einen Spitznamen geben müssen«, hatte Tinka gemeint, also blieben sie bei »Kerl« oder »Scheißkerl« oder »Erpresser«.
Später saßen sie zusammen auf dem Sofa und Tinka hatte einen Becher Tee in der
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