Töte, wenn du kannst!: Kriminalroman (German Edition)
im Rechnen war sie nicht so gut. Und dann geschah das Wunderbare: Ihre Mutter fand eine Teilzeitstelle in der Leihbibliothek, die an drei Nachmittagen in der Woche geöffnet war, und meistens nahm sie Lillemor dorthin mit, während man ihren Bruder bei einer Nachbarin ablieferte. Vom ersten Tag an liebte Lillemor die Bücherei. Stundenlang konnte sie auf der Besucherbank sitzen und lesen, lesen, lesenSie hatte einen Traum: Sie wollte ihr Leben den Büchern widmen. Irgendwann wollte sie hinter dem Tresen stehen, so wie Camilla, und den Menschen, die nach Büchern fragten, helfen, das richtige Buch zu finden. Sie wollte Herrin über die hohen Regale einer Bücherei sein, irgendwo in einer großen Stadt. Die Leute würden kommen und nach Lillemor fragen, wenn sie nicht weiterwussten, denn sie würde diejenige sein, die sich am besten auskannte im Dschungel der Bücher. Diese Person, ihr zukünftiges Ich, sah sie vor sich, wenn sie abends die Augen schloss.
Ab und zu verschwand Ingvar für einen oder zwei Tage, und ihre Mutter sagte, er müsse noch andere Gemeinden betreuen, in noch öderen Dörfern, und das alles wäre ohnehin nur vorübergehend. Irgendwann kämen sie wieder in die Stadt.
»Nach Kiruna?«, fragte Lillemor, denn davon hatte sie in der Schule gehört, die Lehrerin kam von dort.
»Um Himmels willen, nein«, lachte Camilla bitter.
Camilla verbrachte viel Zeit vor dem Fernseher oder blätterte in Zeitschriften und wollte dabei in Ruhe gelassen werden. Genau wie Ulrika konnte auch Camilla ziemlich böse werden, wenn ihr etwas auf die Nerven ging. Sie verteilte zwar nur höchst selten Ohrfeigen, aber sie hatte andere Methoden. Wenn Lillemor eine schlechte Note nach Hause brachte oder sich eine andere Verfehlung hatte zuschulden kommen lassen, wurde eine ihrer Puppen oder eines ihrer Stofftiere im Ofen verbrannt. Lillemor musste aussuchen, welches. Und Camilla bestand darauf, dass Lillemor jeden Morgen vor der Schule ihre heiße Milch austrank, obwohl sie sich vor der Haut, die darauf schwamm, schrecklich ekelte.
Irgendwann nahm Lillemor auch Bücher mit nach Hause und las in jeder freien Minute. Allerdings hatte sie dafür immer weniger Zeit, als sie gerne gehabt hätte, denn sie wurde mehr und mehr zu einer Art Ersatzmutter für ihren Stiefbruder. Mit Camilla war immer weniger zu rechnen. Häufig klagte sie über Migräne und zog sich tagelang ins Schattenreich ihres verdunkelten Schlafzimmers zurück. Wenn sie herauskam, roch ihr Atem schlecht und ihre Laune war unberechenbar. Mal war sie heiter, witzig geradezu, dann wieder streitsüchtig und voller Selbstmitleid. Abends, wenn die Kinder im Bett waren, zankte sie sich mit Ingvar. Lillemor konnte ihre lauten Stimmen sogar durch die Decke hören, die sie sich über den Kopf zog. Ingvar schien es in der »gottverlassenen Gegend« zu gefallen, er machte keinerlei Anstrengungen, versetzt zu werden. Deswegen stritten sich er und Camilla, aber auch wegen aller möglichen anderen Dinge. Es war nicht schwer, mit Camilla in Streit zu geraten.
Aber Lillemor liebte und bewunderte sie dennoch und tat alles, um ihr zu gefallen, dieser Mutter, die irgendwie da gewesen war und doch nicht richtig da war, und die Lillemor vermisste, obwohl sie mit ihr unter einem Dach lebte.
Tinka kniete neben einem Stapel Kleidung am Boden und drehte eine kleine Mütze in den Händen. Sie stammte aus einem sündteuren Kindermodengeschäft, war weiß und hellblau und rosa und auf der Borte jagten sich Hasen und Elche. Sie waren sich darüber einig gewesen, dass sie keinen Lucie-Altar schaffen wollten. Das Kinderbett lagerte im Keller. Es wäre jetzt sowieso viel zu klein, dachte Tinka, auch die Kleidung. Aber all das wegzugeben hatten sie dennoch nicht fertiggebracht. Sie hatten Lucies Kleidung und Spielzeug in Umzugskisten gepackt, die jetzt in dem Zimmer standen, das sie Gästezimmer nannten, obwohl noch nie jemand über Nacht geblieben war. Doch, vor ein paar Wochen ihr Bruder Gunnar, sturzbetrunken. Zuvor hatte er auf ihrem Sofa gesessen und sein Herz aus- und zwei Flaschen Wein in sich hineingeschüttet. Hatte sich bitter darüber beklagt, dass ihn sein Vater für Dinge verantwortlich mache, für die er nichts könne, dass Greta ihm auch kein Trost sei und er Angst habe, dass ihn seine Frau Sanna mit William verlassen würde, wenn es mit dem Luxusleben eines Tages vorbei sein sollte. Und so weiter. Tinka und Leander hatten ihn einfach reden lassen, was sollte man auch dazu sagen?
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