Töten Ist Ein Kinderspiel
Hause. Nur brachte sie von draußen eine Unruhe mit herein, die sich ungut mit der Erschöpfung seines Vaters vertrug, wenn er aus dem Büro kam. Meist gingen die Diskussionen erst los, wenn die Kinder schon im Bett sein sollten, und oft schlich Ben zur Treppe, setzte sich auf die oberste Stufe und verfolgte den Schlagabtausch. Wenn er die Augen schloss, schien es ihm wie ein Tennisspiel mit luftigen Worten, die immer schneller und härter hin und her flogen.
„Du hast es dir so ausgesucht. Niemand zwingt dich, arbeiten zu gehen.“
„Ach, nein? Soll ich in meinem Mutterglück versauern und dir das Leben überlassen?“
„Welches Leben? Wir können gerne tauschen und du setzt dich von morgens bis abends hinter den Schreibtisch.“
„Als ob du so viel hinter dem Schreibtisch sitzen würdest!“
„Was willst du mir denn damit sagen? Dass ich nichts arbeite?“
„Du verstehst überhaupt nichts. Gar nichts.“
Seine Mutter, so schien es Ben, wollte gar nicht, dass alles wieder gut würde, sie war erst zufrieden, wenn einer von beiden die Türen knallte und sie sich zurückziehen konnte in ihr Zimmer, auf ihr Bett. Dort konnte sie stundenlang liegen und an die Decke starren, er hatte oft genug durch das Schlüsselloch geschaut und sich ihrer vergewissert. Und immer Angst um sie gehabt.
Unberechenbar. Das war das Wort, das ihm spontan eingefallen war, als die Kommissarin ihn nach seinen Eltern gefragt hatte. Im Grunde hielt er in dieser Familie alles für möglich. Nach außen wirkte ihr Zusammenleben vollkommen in Ordnung, doch kaum hatte man die Tür hinter sich geschlossen, begann die Welt zu schwanken. Schon lange bevor sein Vater krank geworden war.
Es war schon immer so gewesen, als ob das ganze Haus an einer Krankheit litt, an einer Schwäche, die seine Bewohner verlangsamte, sie zu Schnecken machte im eigenen Innern. Die Wände schienen unter Spannung zu stehen, die Räume hielten die Luft an, die Böden knirschten sowenig, wie die Holztreppen knarrten, es war, als ob, was hier geschähe, luftdicht abgeriegelt werden, nicht nach außen dringen sollte. Bis es sich mit Gewalt Gehör verschaffte.
Nie hatte er sich vor seinen Eltern gefürchtet, eher einen Drang verspürt, sie zu beschützen. Das erste Mal, als er seinen Vater weinend im Keller vorgefunden hatte, mit blutigen Händen zwischen Glasscherben sitzend, war er seltsam ruhig geworden. Behutsam hatte er ihm über den Rücken gestrichen und den Verbandskasten geholt. Gemeinsam hatten sie mit einer Pinzette die Splitter aus der Hand gepickt, die Wunde desinfiziert und verbunden.
Es war wie ein Spiel in Zeitlupe gewesen und Ben hatte gebetet, dass seine Mutter nicht dazukäme, die Intimität zwischen ihnen zu beenden. Doch niemand hatte sie gestört. Sein Vater war es gewesen, der das Schweigen schließlich brach: „Du bist ein toller Junge, Ben.“
Dann hatte er ihn trotz des Verbands an der Hand genommen und war mit ihm die Treppe hinaufgegangen, als wäre nichts passiert. So war es gewesen, seit er denken konnte: Katastrophen kamen und gingen, aber niemand wollte sie wahrhaben.
Vier
„Als ich in deinem Alter war…“
Weiter kam ich nicht.
Ich hatte so lange nicht an das Mädchen gedacht, das im selben Haus, in dem Hannes nun nach ihm fragte, groß geworden war. Zurechtgestutzt zur gehorsamen Tochter, adrett und wohlerzogen, schicksalsergeben und schweigsam. Eine junge Deutsche, wie sie im Buche des Führers stand.
„Also, was ist jetzt?“
„Wieso soll ich dir von mir erzählen? Es ist alles schon so lange her, die Vergangenheit hat keine Bedeutung mehr.“
„Aber es interessiert mich.“
„Warum?“
Hannes dachte nach. Schaute aus dem Fenster und wippte nervös mit den Füßen. „Das Vergangene ist berechenbar“, sagte er schließlich. „Es ist wie ein offenes Buch, man muss nur darin lesen. Das, was kommt, sind leere Seiten. Das mag ich nicht.“
Was er nicht mochte, war die Angst vor den anderen. Außenseitergedanken. „Würdest du nicht gerne das eine oder andere in dem offenen Buch ausradieren?“, fragte ich ihn.
„Nein.“ Die Antwort kam unerwartet schnell.
„Gar nichts?“
„Nein.“
„Du hast nur Schönes erlebt?“
Er lachte auf. „Im Gegenteil. Ich bin eine Missgeburt. Was glaubst du wohl, wie man mich behandelt?“
„Wie denn?“
Wie ernst dieser Junge werden konnte. Ohne Vorwarnung verschloss sich das Gesicht zu einer steinernen Maske, sein Körper wurde starr und seine Finger drehten sich nach
Weitere Kostenlose Bücher