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Töten Ist Ein Kinderspiel

Töten Ist Ein Kinderspiel

Titel: Töten Ist Ein Kinderspiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Corinna Waffender
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wie er an Saras Tür klopfte und in ihr Zimmer ging. Dort hatte er offenbar die Nacht verbracht, denn er hörte ihn nicht wieder herauskommen. Das Gespräch mit der Polizei hatte seinen Vater erschöpft, und er ließ ihn ruhen.
    Sara hatte sich, nachdem sie vor den Kommissaren davongelaufen war, in ihrem Zimmer eingeschlossen.
    Sie wird Mutter immer ähnlicher, hatte Ben in den letzten Wochen ein paar Mal gedacht, und es ärgerte ihn. Überhaupt ging ihm seine Schwester mit ihrem Gezicke auf die Nerven. Entweder sie redete belangloses Zeug, oder sie schmollte. Außer Hockey schien sie sich für nichts mehr zu interessieren, am wenigsten für die Menschen, mit denen sie zusammenlebte. Seit einiger Zeit wurde sie wegen nichts und wieder nichts hysterisch und war die meiste Zeit schlecht gelaunt und entsprechend unausstehlich.
    „Lass sie, das ist die Pubertät“, hatte seine Mutter Sara in Schutz genommen.
    „War ich auch so in dem Alter?“
    „Nein. Du warst um einiges umgänglicher.“ Sie hatte ihm lächelnd über den Kopf gestrichen, wie sie es früher oft getan hatte, doch dieses Mal hatte er sich schnell abgewandt und beide spürten, dass eine solche Geste von nun an der Vergangenheit angehören würde.
    Ben stand unschlüssig im Flur. Er hatte Mitleid mit Sara, für die eine heile Welt zusammengebrochen war. Gehörte es nun zu seinen Aufgaben als großer Bruder einer Halbwaise, sich um Sara zu kümmern? Zögerlich stand er vor ihrer verschlossenen Zimmertür, hielt ein Ohr daran und lauschte. Nichts zu hören. Er atmete auf. Hätte sie geweint, hätte er geklopft. So aber konnte er davon ausgehen, dass sie schon allein zurechtkam. Was hätte er ihr auch sagen sollen? Dass alles wieder gut würde, wo er doch wusste, dass ihnen das Schlimmste erst noch bevorstand?
    Auf leisen Sohlen schlich er sich wieder davon, verschwand schnell im Zimmer seiner Mutter und schloss die Tür hinter sich.
    Alles war penibel aufgeräumt, die Bettdecke war akkurat zurechtgezupft, die Kissen lehnten gewollt aufgelockert an der Wand. Auf dem Schreibtisch vor dem Fenster türmten sich bedruckte und beschriebene Blätter, ordentlich aufeinander gestapelt, umrahmt von Büchern und Karteikarten. Als ob sie jeden Moment hereinkommen könnte, um an ihrer Doktorarbeit zu schreiben. Was sie schon Jahre nicht mehr getan hatte. Dennoch hatte sie ihre Aufzeichnungen und Materialien niemals entsorgt oder auch nur weggeräumt. Die Papiere waren ewig nicht mehr bewegt worden, verrückte man sie, zeichneten sich an den Druckstellen vergilbte Ränder ab. Die Zeitungsausschnitte waren allesamt Reliquien einer bedeutungslos gewordenen Recherche. Der ganze Raum war eine Art Heiligtum, es ohne Erlaubnis zu betreten war streng verboten, und außer Staub zu wischen, waren hier schon lange keine Arbeiten mehr verrichtet worden. Es gab Fotos, auf denen er als Baby in einer Wiege neben dem Schreibtisch gelegen hatte, und Ben war sicher, dass damals dieselben Aktenordner im Regal gestanden, dieselben Unterlagen in denselben Schnellheftern auf seine Mutter gewartet hatten.
    „Ich promoviere“, war für ihn zum Inbegriff eines Zustands geworden, der seiner Mutter anhaftete wie eine unheilbare Krankheit. Die aufrührerische Klosterschwester im Mexiko des 17. Jahrhunderts, die sich für das Recht der Frauen auf Wissen und Bildung eingesetzte hatte und deren Wirken seine Mutter erforschte, hatte ihre Brille zerstören müssen, um mit dem Schreiben aufzuhören. Seine Mutter hatte es subtiler angestellt – sie schien von ganz alleine vergessen zu haben, was sie einmal gewollt hatte. Oder war sie wirklich nur überfordert gewesen?
    „Wie, bitte schön, stellst du dir das denn vor: Haushalt, Kinder, Job und Schreibtisch?“, hatte sie seinen Vater mehr als einmal gefragt.
    „Wir könnten eine Putzfrau beschäftigen.“
    „Die meine Doktorarbeit schreibt?“
    Ben war gerade in die dritte Klasse gekommen, seine Schwester besuchte eine Kita, und seitdem seine Mutter begonnen hatte, als Religionslehrerin zu arbeiten, hing der Haussegen schief. Es war, als ob die Zeit mit einem Mal schneller verginge und sie alle nicht mehr hinterherkämen, als ob ein unsichtbarer Gast bei ihnen am Mittags- und Abendbrottisch säße. Viel später begriff er, dass tatsächlich etwas bei ihnen eingezogen war, das vorher keinen Platz in ihrem Leben gehabt hatte: Stress.
    Er war sicher, dass es nicht daran lag, dass seine Mutter arbeitete, denn tatsächlich war sie nicht weniger zu

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