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Töten Ist Ein Kinderspiel

Töten Ist Ein Kinderspiel

Titel: Töten Ist Ein Kinderspiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Corinna Waffender
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Tür ein Zeichen machte.
    „Falls Ihnen noch etwas einfällt, rufen Sie mich an, ja?“, beendete er das Gespräch und reichte der Frau seine Karte. „Dürfte ich sie noch um eine Adresse bitten, wo ich Sie erreichen kann?“
    „Wozu das denn?“, fragte sie und las seinen Namen ab, „Herr Berger?“
    „Das kann man nie wissen, Frau Meisner“, antwortete Berger.
    Der Kommissar verließ schnell den Raum, bevor er vor ihr erröten konnte, und gesellte sich zu seiner Kollegin.
    „Hier ist man sich eigentlich einig: Selbstmord.“
    „Dort auch“, antwortete Berger und wies mit dem Kopf in Richtung Küche. Und mit Blick auf den Infusionsständer: „Keine Spuren von Fremdeinwirken?“
    „Übersät von Fingerabdrücken. Aber die Art und Weise, wie das Zeug in die Kanüle kam, deutet wohl darauf hin, dass er es selbst war. Und dann ist da noch dieser Brief an mich.“
    Die Kommissarin hielt eine Plastiktüte mit einem Zettel und einem Kuvert darin hoch. „Ich bin am Tod meiner Frau Erika schuld“, las Inge Nowak vor.
    „Wo lag der?“
    „Auf seinem Schreibtisch, in einem Umschlag mit meinem Namen darauf. Samt seiner Unterschrift und Datum von heute.“ Sie gab die Plastiktüte einem Kollegen der Spurensicherung zurück. „Wenn es überhaupt seine Schrift ist und uns hier niemand etwas anderes glauben machen will.“
    Das Gespräch der beiden Kommissare wurde jäh von dem Erscheinen einer hochgewachsenen Frau mit einer Jacke über dem Arm unterbrochen. Sie war etwa in Inges Alter und machte den Eindruck, als wäre sie gerade aus dem Urlaub zurückgekehrt.
    „Mathilde Taylor. Mein Schwager hat mich gestern angerufen. Ich lebe in London und habe sofort den nächsten Flieger genommen. Was ist denn überhaupt passiert? Wo ist Sara?“
    In deiner Haut möchte ich jetzt nicht stecken, dachte die Kommissarin und war froh, dass endlich eine Angehörige gekommen war. Dann erst fiel ihr auf, dass sie nicht nach Ben gefragt hatte, der wie vom Erdboden verschluckt war.

Neun
    Der Vogel war ausgeflogen und kam nicht wieder.
    Vielleicht hätte ich nach ihm suchen sollen, doch ich verließ meinen Käfig nicht mehr. Meine Speisekammer glich einem Bunker; der Vorrat an Konserven und überlebenswichtigen Dingen würde Monate ausreichen. Die Welt draußen war wieder zu dem geworden, was sie nie aufgehörte hatte zu sein, auch wenn sie mir fast vier Jahrzehnte versucht hatte etwas anderes vorzugaukeln: Feindesland.
    Ich bezog meinen Platz am Fenster, ich schlief in seiner Nähe. Ich betrachtete meine faltig gewordenen Hände, die Altersflecken. Die Bilder des Gefallenen in meinem Kopf schickte ich hinaus in die Weite des Sommerhimmels, die Sonne spannte sich wie ein Laken über das Bett, in dem er gefangen war, und blendete jede Erinnerung.
    Fast jede.
    Komm wieder, wann immer du willst, hätte ich ihm gerne gesagt, als er das Haus verließ. Erschüttert, verletzt, gebrochen.
    Gib ihnen keine Genugtuung.
    Es ist keine Schande.
    Es gibt keine Schande.
    Doch ich stand nur stumm in der Tür, eine alte Frau, deren Fleisch er gerochen hatte, und ließ ihn gehen.
    Ich wartete.
    Der Brief kam über eine Woche danach. Er enthielt nur ein Foto. Verschwommen zwar, doch man erkannte uns genau.
    Manche Dinge hält man nur aus, wenn man bereits ein Leben verloren hat. Hannes hatte nur noch ein einziges vor sich. Und ich wusste, wenn ich seinen Stolz nicht retten konnte, würde er es verlieren.
    Blanke Wut trieb mich auf den staubigen Weg, von dem sie gekommen waren. Die Kinder der Kinder meiner Schulkameraden. Die, sahen sie mich auf der Straße, die Köpfe zusammensteckten und tuschelten. Die Söhne und Töchter derer, die mich in die Hölle geworfen hatten. Die bis heute nichts gewusst haben wollen. Wie der alte Erdmann, Freund meines Vaters. Erich hatte sich nach dreiunddreißig gleich auf die richtige Seite geschlagen, Grundbesitzer mit Parteibuch waren gern gesehen. Blut und Boden, davon wollte später niemand mehr etwas wissen, so wenig wie von den Zwangsarbeitern bei der Ernte.
    „Das bildest du dir doch alles nur ein, Iris.“
    In der heilen Welt meiner Mutter hatte eine ebenso gründliche Säuberungsaktion stattgefunden wie in den Köpfen meiner Altersgenossen. Sie alle wollten vergessen, was sie niemals hatten wissen wollen.
    Doch nun hatte der Enkel eines Nazis seinem Großvater alle Ehre gemacht: Udo Erdmann hatte meinen Engel im Flug abgefangen.
    Und dafür würde er büßen.
    In mir breitete sich eine kindliche Aufregung aus.

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