Töten Ist Ein Kinderspiel
mir Ausflüge in Gegenden versprochen, die ich noch nicht kenne, und ich sehe nicht, dass das passiert, wenn ich es nicht selbst organisiere.“
„Wie bist du überhaupt auf den Fall in Unterlurch gekommen?“
Schon in der S-Bahn hatte Verónica Inge das Fax gezeigt. Ihre Recherche hatte zwei weitere Tote ins Spiel gebracht: Der 16-jährige Udo Erdmann war 1980 erschossen worden, sein mutmaßlicher Mörder hatte sich auf grausame Weise das Leben genommen – er hatte sich verbrannt. Erika Mangold musste beide gekannt haben – vielleicht hatte das eine Beduetung, auch wenn es bereits über zwanzig Jahre zurücklag.
Der Kellner brachte Kaffee, legte ein Besteck vor jede und stellte einen Brotkorb in die Mitte.
„Hab ich vor Urzeiten auf der Polizeischule gelernt: immer in der Vergangenheit des Opfers stöbern und dabei alle Quellen ausschöpfen.“ Verónica betrachtete das aufgerissene Kondensmilchdöschen, das neben Inges Tasse lag, genauer. „Angeblich kommt man ja von seiner Vergangenheit nicht los. Wie das hier beweist.“ Sie grinste und hielt ihrer Freundin den Deckel hin, der den Münsteraner Dom zeigte.
„Wir fahren nicht zufällig einen Umweg, oder?“ Inge Nowak schaute sie durchdringlich an. „Ich hab dir gesagt, dass ich darauf plus minus null Lust habe.“
„Beruhige dich“, erwiderte Verónica belustigt. „Ich würde doch nie etwas gegen deinen Willen tun. Und bevor wir in deine Heimatstadt fahren würden, müsste ich dich erst mal entwaffnen.“
„Gut, dass du das verstanden hast.“ Inge lehnte sich etwas entspannter zurück. Es war nicht so, dass sie die Stadt nicht mochte. Im Gegenteil. Manchmal fehlte ihr die besonnene Distanz der Münsteraner auf dem Fahrrad, Sonntagnachmittage am Kanal oder der Blick auf die rötlichen Backsteinbauten alter Fabriken. Das letzte Mal war sie zum siebzigsten Geburtstag ihrer Mutter dort gewesen, die Erinnerung an ihre Jugend, ihre Heirat und die erste Zeit bei der Polizei hatte sofort jenes Gefühl in ihr wachgerufen, weswegen sie mit ihrer damals dreizehnjährigen Tochter der westfälischen Idylle entflohen war: Münster war satt, und wenn man hungerte nach etwas, das es zwischen Aasee und Ludgerikirche nicht gab, ging man besser. Denn die Stadt und die Menschen, die sie zu einem quirligen Ort der Lebensfreude machten, lebten von dem Traum, nichts zu entbehren, und sie mochten es ganz und gar nicht, wenn man ihn zerstörte.
„Warum schließt du nicht mit deiner Vergangenheit Frieden?“
Vielleicht, dachte die Hauptkommissarin, weil ich neidisch bin. Weil ich selbst gern in einem schmucken Reihenhaus sitzen würde, glücklich verheiratet, finanziell sorglos und sozial eingebunden. Gern Energie und Zeit hätte, ins Kino oder ins Theater zu gehen, vielleicht selbst etwas zu machen: Sport, ein Hobby, Freunde. Weil die, die zurückgeblieben sind, es besser haben als ich und ich das nicht zugeben kann.
„Wenn du keinen Krieg zwischen uns willst, begräbst du das Heimatthema ganz schnell. Glücklicherweise liegt Münster ja nicht auf dem Weg.“ Sie trank einen Schluck Kaffee. „Wann sind wir eigentlich da?“
„In zweieinhalb Stunden sind wir in Frankfurt. Dort steigen wir um in eine Regionalbahn und am Ende dürfen wir noch Busfahren. Gegen zwei kommen wir an.“
Das Frühstück wurde serviert, und sie aßen beide schweigend ihr Rührei. Draußen flog Brandenburg vorbei, und in diesem Moment war es der Hauptkommissarin vollkommen gleichgültig, wohin sie fuhren: Zum ersten Mal seit Verónicas Ankunft fühlte sie sich wieder leichter und konnte das Zusammensein genießen. Weil sie unterwegs waren und der Alltag einmal mehr außen vor?
Verónica winkte dem Kellner und deutete auf ihre leere Tasse Kaffee. Dann wendetet sie sich wieder Inge zu.
„Ist doch schon eigenartig: „Keine Tatwaffe, kein Täter, und das genau in der Zeit, als unsere Tote in einer pubertären Sammelkrise war.“
„In dem Bericht steht nicht: ‚Kein Täter ermittelt’, sondern dass man aufgrund der Indizienlage davon ausgeht, dass es sich bei dem zweiten Toten um den Täter handelt. Das ist etwas anderes.“
„Würdest du dich verbrennen, wenn du eine Pistole hättest?“
„Ich würde mich überhaupt nicht umbringen, dazu wäre ich viel zu feige.“
„Feige? Du würdest es nicht tun, weil du zu anständig wärst. Selbstmord ist feige.“
Inge dachte einen Moment nach. „Vielleicht nicht immer, aber wahrscheinlich hast du recht. Doch wenn sich einer verbrennt,
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