Töwerland brennt
Erbe aus dem Schneider. Um das jedoch beurteilen zu können,
benötige ich eine Aufstellung der Verbindlichkeiten, ein Wertgutachten des Hotels
und …«
Heike Harms stand auf. »Danke. Sie haben mir bereits geholfen. Schicken
Sie Ihre Rechnung bitte ans Hotel.«
Der Notar erhob sich ebenfalls. »Frau Harms, ich bitte Sie. Ich
stelle Ihnen doch für unsere Unterhaltung keine Kostennote aus. Ihr Vater und
ich …«
»Ich weiß«, entgegnete Heike. »Vielen Dank.«
Ihr nächster Weg führte Heike Harms zum Bestatter. Auf Juist gab
es kein Beerdigungsunternehmen, sondern nur einen Beauftragten einer Firma, die
in Norden und Umgebung die Toten unter die Erde brachte. Dieser hatte den Leichnam ihrer Mutter noch am
Todestag abgeholt und in die Kapelle des Dünenfriedhofs am Ostrand des Dorfes
gebracht, wo sie bis zur Trauerfeier verbleiben sollte.
Der Bestatter trat wie das personifizierte Mitgefühl auf. Fast konnte
man den Eindruck haben, nicht Maria Harms, sondern seine eigene Mutter sei
verstorben.
Heike traf die notwendigen Entscheidungen und verließ kurz darauf
das Büro wieder. Trotz des zerrütteten Verhältnisses zu ihrer Mutter hatte ihr
das professionelle Mitleid des Inhabers gut getan.
Jetzt war sie erleichtert und
ein wenig stolz, diese Aufgabe ohne die Unterstützung ihres Bruders
bewältigt zu haben. Ab heute, schwor sie sich, fängt mein neues Leben an. Das
Hotel wird verkauft, so oder so. Entweder, um die Gläubiger zu befriedigen,
oder aber, damit Gerrit mich auszahlen kann. Er jedenfalls wird nie mehr als
der erfolgreiche Hotelbesitzer auf Juist herumstolzieren.
Dieser Gedanke erfüllte sie mit tiefer Genugtuung.
33
Rainers Wochenende war nicht ganz zufriedenstellend
verlaufen. Da war zunächst das unerquickliche Telefonat mit seiner Lebensgefährtin
Elke gewesen. Dann hatten die Münchner Bayern Stuttgart mit 3:1 abgefertigt und
waren zu allem Übel Deutscher Meister geworden – sieben Punkte vor Eschs Verein
Schalke. Und hinzugekommen war auch noch, dass er, die Warnungen Ützelpüs ignorierend,
den Sonntag wieder am Strand verbracht hatte und sein Sonnenbrand deshalb immer
mehr den Charakter einer schweren Brandverletzung annahm.
Im Internetcafé im Haus des Kurgastes, das am Wochenende zu seinem Ärger geschlossen war , hatte er sich am
Montagmorgen für kleine Knete das Bild Knut Tohmeiers, das er auf seinem
USB-Stick gespeichert hatte, in Postkartengröße ausdrucken lassen. Der
Druck war auf normalem Kopier- und nicht auf Fotopapier erfolgt, trotzdem war
der junge Mann auf dem Bild gut erkennbar.
Dann hatte er begonnen, die ihm bekannten Kneipen aufzusuchen, um
sich nach Tohmeier zu erkundigen – ohne jeden Erfolg. Er dehnte seine
Nachforschungen auf die Restaurants, Hotels und Pensionen aus. Die meisten der dort Beschäftigten, denen er das Bild vor die
Nase hielt, sahen ihn mit einem Gesichtsausdruck an, der nichts anderes bedeutete
als: Scher dich zum Teufel. Andere schüttelten nur entschuldigend den Kopf.
Lediglich einer der Kellner der Spelunke meinte,
Tohmeier schon einmal gesehen zu haben, war sich aber nicht sicher.
Viel Zeit verbrachte der Anwalt damit, sich die Limericks ins Gedächtnis
zu rufen. Besonders das erste Gedicht und eine Zeile des zweiten schienen deutliche
Hinweise zu enthalten. Es dauerte fast eine Stunde, bis er den Vierzeiler rekonstruieren
konnte:
Einst kam ein Mädchen nach Töwerland
Sie war nur einem gut bekannt
Aber sie blieb nicht lange dort
Bald musste sie schon wieder fort.
War damit Claudia Tohmeier gemeint? Passen würde es. Sie war in
der Tat nicht lange auf Juist geblieben und nach nur wenigen Monaten wieder
gegangen. Anscheinend jedoch nicht freiwillig.
Und wem war sie gut bekannt? Gerrit Harms? Nein, unmöglich. Der war
damals noch ein Kind gewesen. Maria Harms? Vielleicht. Was war mit Malte Harms?
Und schließlich noch diese Zeile: Kein Vater,
dann auch keine Mutter mehr.
Rainer ließ ein Gedanke nicht mehr los. War Claudia Tohmeier
gestorben und ihr Sohn Knut deshalb in den Kinderheimen gelandet? Und war Malte
Harms vielleicht der Vater? Die Formulierung im zweiten Limerick legte die
Vermutung nahe, dass der unbekannte Vater vor der Mutter das Zeitliche gesegnet
hatte. Halt, unterbrach Rainer sich nach kurzem Nachdenken. Das stand dort nicht. Es war lediglich davon die Rede,
dass kein Vater da war. Das konnte auch bedeuten … War der unbekannte
Limerickschreiber, den Rainer für Knut Tohmeier hielt, möglicherweise das Kind
von
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