Toggle
war ein soziales Netzwerk –, aber Myface setzte alles daran, die persönlichen Daten vornehmlich junger Menschen aufzusaugen. Einmal aufgesaugte Daten waren für die Konkurrenz verloren, denn Myface gab diese nicht an Suchmaschinen weiter.
»Seine Thesen sind populär, die öffentliche Wirkung wäre gewaltig. Und er unterscheidet sehr wohl zwischen Myface und uns! Wenn Sterzel keine Einwände gegen Toggle Books hat, dann –«
»No way.«
»Ich bestehe darauf«, beharrte Holzwanger trotzig. »Außerdem ist er der Cousin meiner Frau.«
Er wusste nicht, warum er das erwähnte. Genauso gut hätte erzugeben können, heimlich Mitglied einer Datenschutzinitiative zu sein. Für einen Moment hörte er nur transatlantisches Rauschen im Telefon.
Dann lachte Weinberger schallend: »Okay, Doc, Sie kriegen ihn. Unbekannte Grüße an Ihre Frau. Und sie soll Sie in Zukunft mal öfter von der Leine lassen.«
Olga, die dreizehnjährige Tochter des deutschen Toggle-Personalchefs, fand die Vorgesetzte ihres Vaters großartig. Melissa ließ sich duzen, trug dieselben Turnschuhe wie das Mädchen, ihr Büro war dekoriert wie ein Spielzeugmuseum und unaufgeräumter als ein Kinderzimmer. Außerdem pflichtete sie Olga bei, dass man unter keinen Umständen jemals im Leben Fleisch essen müsse.
»Man muss überhaupt nicht viel essen«, sagte Melissa. »Man kann beinahe ohne Kalorien zu tollen Geschmackserlebnissen kommen. Aber das weißt du ja von deinem Vater.«
»Der ist zu dick«, seufzte Olga.
»Weil er neben Jellybeans noch jede Menge anderer Sachen in sich reinstopft. Schokoriegel, Marshmellows, Muffins … öffne seine Schreibtischschublade lieber nicht!«
»Wir dürfen keine Jellys probieren«, gestand Olga.
»Das ist ja echt gemein!«
»Dabei kommen sie sogar bei Harry Potter vor«, ergänzte das Mädchen. »Bertie Botts Bohnen jeder Geschmacksrichtung. Sogar Popel und Kotze sind dabei.«
»Brrr! Damit musst du bei Jellys zum Glück nicht rechnen.«
Melissa trat zu einem Regal neben ihrem Schreibtisch und kramte die aufgetürmten Unterlagen durch. Wie vermutet fand sich neben ihrem Insulin-Pen eine angebrochene Multi-Flavour-Packung Jellybeans, Zeugnis geheimer Leidenschaften. Sie zog sie mit einer geschickten Handbewegung heraus, ohne ihr Diabetikerversteck zu verraten. Außer Walter Weinberger wusste bei Toggle niemand von ihrem kleinen Handicap. Sie fürchtete, damit als eingeschränkt einsatzfähig zu gelten.
»Man kann mit der Zunge lesen. Schon mal gehört?«
Olga machte große Augen und schüttelte den Kopf.
Melissa pickte eine grüne, eine schwarze, eine rote und eine orangefarbene Bohne heraus. »Probieren!«, befahl sie.
Das Mädchen ließ es sich nicht zweimal sagen. Zuerst nahm sie die orangefarbene Bohne.
»Lecker«, sagte sie, »Apfelsine!«
»Nenn sie Orange. Dann nimmst du die hier.« Melissa gab ihr die schwarze Bohne. Das Mädchen spuckte sie sofort wieder aus: »Ih, Lakritz! Mag ich nicht!«
»Na gut, Augen zu, Zunge raus!« Melissa legte ihr die rote Jellybean auf die Zunge. Olga brauchte ein paar Sekunden, bis sie den Geschmack erkannt hatte: »Pampelmuse.«
»Wir schreiben ein internationales Alphabet«, sagte Melissa. »Grapefruit. Und jetzt der letzte Buchstabe.«
»Apfel!« Das kam wie aus der Pistole geschossen.
Melissa nickte. »Was hast du gelesen?«
Olga verstand nicht.
»Versuch’s mal mit den Anfangsbuchstaben.«
»Apfelsine …«
»Orange«, verbesserte Melissa.
»Orange, Lakritz, Grapefruit, Apfel.« Das Mädchen strahlte: »O-L-G-A! Mein Name.«
»Siehst du? Man kann mit der Zunge lesen, und das sogar im Dunkeln.«
Plötzlich packte Melissa Stockdale das Mädchen fest am Handgelenk. »Vergiss das nicht«, sagte sie scharf. »Wenn du vor einem unlösbaren Rätsel stehst, hilft dir das weiter.«
Olga nickte eingeschüchtert. Was für eine tolle Frau! Sie zwinkerte nicht mal bei diesem Spaß.
»Bist du eigentlich bei Myface, Sweetie?« Melissa klang wieder lockerer.
»Klar! Alle sind bei Myface.«
Olga wunderte sich über die Frage. Man konnte gar nicht Mensch sein und keine Myface-Seite haben. Ohne Myface hatte man kein Gesicht.
»Wollen wir uns befreunden?«
»Ne!«
Olga schüttelte heftig den Kopf. Sie wusste, dass es ihr Vater ungern sah, wenn sie sich im sozialen Netzwerk »herumtrieb«, wie er es abfällig nannte. Angeblich war sie dafür zu jung. Dabei postete sie überhaupt nichts Privates, sondern schrieb nur über Mode, Filmstars und schicke
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