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Redners gegenwiegen. In Abstimmungen jedoch wird das Ja des Klugen und Ehrbaren dem Ja des Dummen und Schurken gleichgestellt. Jedermann steht für ein ungeteiltes Ja – jedes Ja steht ungeteilt für einen Mann, ob Weiser oder Kretin. Wert und Nutzen gelangen vollkommen unterschiedslos zur Deckung.
Ohne dass Giancarlo Arcimboldo schon begriffen hätte, worauf die Worte hinausliefen, machte sich bei ihm ein körperliches Unwohlsein bemerkbar. Dieses Unwohlsein wuchs von Satz zu Satz und ließ sich auch nicht durch den eleganten Stil des Autors – altertümlich, doch elegant – in Schranken weisen. Der Dozent erhob sich, nahm aus einer Vitrine einen Fernet-Branca heraus, als sei die Lektüre ein schwer verdauliches Mahl. Dann blätterte er ein paar Seiten weiter. Seine Augen streiften einen hervorgehobenen Satz, der ihm ungeheuerlich erschien. In der Hoffnung auf dessen Entschärfung kehrte er einen Abschnitt zurück:
Lass es mich offen aussprechen, verehrter und unübertrefflicher Leser: Ich, Ferdinando Galiani, bin kein Anhänger republikanischer Ideen, wie sie namentlich vom Herrn de Montesquieu in Frankreich hervorgebracht und von seinen Anhängern mit schäumender Begeisterung verteidigt werden. Wiewohl ich ein Gegner demokratischer Verhältnisse bin, so bin ich doch auch ein Verächter der monarchischen Hegemonie. Sie stützt sich auf die natürliche, von Gott gewollte Ungleichheit der Menschen. Doch legt sie diese auf beschämend primitive Weise aus, was wiederum die Gegner der Monarchie dazu verführt, Gleichheit als Remedium zu betrachten, statt das wirkliche Heilmittel in verstärkter Ungleichheit zu suchen. Betrachtet man die Ungleichheit jedoch nicht wie einen Bitterstoff, der den Teig verdirbt, sondern wie Hefe, die den Teig treibt und zum nahrhaften Brot reifen lässt, können wir zu einer wahrhaft gerechtenWelt gelangen. So reiche ich den Republikanern die Hand, indem ich sage:
Der Wunsch nach Gleichheit ist kein Verbrechen, sondern bloß ein Irrtum. Zum Verbrechen wird er freilich, wenn man ihn weiter hegt, nachdem man seinen Irrtum erkannt hat.
Dottore Giancarlo Arcimboldo genehmigte sich einen weiteren Bitter. Mit welcher Kaltschnäuzigkeit versuchte ihn hier ein Autor aus dem 18. Jahrhundert zu manipulieren? In den Siebzigern war Arcimboldo gegen die Korruption bei der Democrazia Christiana auf die Straße gegangen, in den Achtzigern hatte er aus denselben Gründen den Sozialisten das Parteibuch vor die Füße gepfeffert, und ab den Neunzigern war er fast wöchentlich an Aktionen gegen Berlusconi, die Lega Nord und die Neofaschisten beteiligt gewesen. Dreimal war er dabei kurzzeitig ins Gefängnis gekommen – nach den Genua-Krawallen sogar für mehr als vierzehn Tage –, aber seine Haltung gegenüber den Verächtern der Volksherrschaft hatte das nur bestärkt: Wer die Prinzipien von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit infrage stellte, bekam es mit ihm zu tun! Dennoch konnte er sich jetzt nicht von der Lektüre losreißen. Stirnrunzelnd las er weiter:
Freilich, simple Wahlregeln lassen sich ohne geistigen Aufwand praktizieren. Das erklärt ihre Beliebtheit, obgleich ihnen an Gerechtigkeit mangelt. Schon vor Jahrhunderten erkor man in den Klöstern die Äbte, im Vatikan die Päpste und in manchen großen Reichen wie dem deutschen die Kaiser nach ihrer Gestalt. Wenige nahmen an einer Wahl teil, doch wer zu ihr gerufen wurde, genoss das gleiche Recht wie alle anderen. Eine Stimme zählte so gut wie die andere, ohne Rücksicht auf Alter und Herkunft, Talent und Verdienst. Wert und Nutzen fielen in eins, und alle waren damit zufrieden.
Das erstaunt mich nur wenig.
Denn ein von allen Nebenabreden befreites Ja entspricht der 1 in der Mathematik. Mit der 1 lässt sich gut rechnen. Die 1 erlaubt Klarheit, wo zuvor viele verwirrende Argumente durch den Raumschwirrten, deren Schlagkraft sich nur schwer einschätzen lässt und deren Wert sich in jeder Minute verändern kann. So ziehen wir uns lieber auf eine streng mathematische Position zurück und sagen: »Der Sieg bei einer Abstimmung entsteht durch Patt plus 1.« Nur eine Stimme macht den Unterschied, alle anderen sind überflüssig. Was tun wir aber bei einem Patt, das kein »Plus 1« mehr erzielen kann, weil alle Stimmen fest in gleichstarken Blöcken gebunden sind?
Oh, die Menschen sind findig!
Sie legen ihr Schicksal einfach in die Hand eines Unbekannten, den sie aus der Menge herausgreifen, so wie die Juden den zehnten Mann zu
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