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Dottore Giancarlo Arcimboldo der Gummihandschuhe, die seine Putzfrau benutzte, wenn sie mit scharfen Reinigungsmitteln hantierte. Zwar benötigte der Dozent einige Kraft, um seine Hände in die gleich mehrere Nummern zu kleinen Handschuhe zu zwängen, die noch dazu nach Frauenschweiß rochen, doch fühlte er sich erst danach gewappnet, das Buch zu berühren. Seite 321. Hier begann etwas Neues, zweifellos. Er überflog die ersten Zeilen:
Unfehlbares System zur perfekten Lenkung der Welt unter Absehung von Gewalt, doch ohne Rücksicht auf herrschende Mächte, deren garantierte Privilegien und bestehende Pfründe. Nebst einer mathematischen Formel zur Vermessung der menschlichen Ungleichheit und zur Ableitung eines gerechten Verteilungsschlüssels aller Güter.
Eingereicht als Beitrag zum Prix de morale der Académie de Dijon von Ferdinando Galiani, Neapel 1754.
Es geht in dieser Abhandlung nicht um jene metaphysischen Spitzfindigkeiten, die alle Bereiche des literarischen Lebens erobert haben und von denen akademische Abhandlungen nicht immer frei sind. Es geht hier vielmehr um eine jener Wahrheiten, die das Glück des Menschengeschlechtes berühren. Ich sehe voraus, dass man mir kaum verzeihen wird, welchen Standpunkt ich einzunehmen wage, denn zu allen Zeiten gibt es Menschen, die von den Ansichten ihres Jahrhunderts, ihres Landes und ihrer Gesellschaftsschicht beherrscht werden. Für solche Leser darf man nicht schreiben, will man über sein Jahrhundert hinaus fortleben, was ich unzweifelhaft tun werde. Ich schreibe für jene, die ihren Kopf gebrauchen, bevor er ihnen abgeschlagen wird.
Die Worte stimmten mit jenem Text überein, den Giancarlo Arcimboldo bereits kannte. Er blätterte weiter. Natürlich war nach sechzehn Seiten nicht Schluss gewesen, sondern das Buch nur unaufgeschnitten geblieben. Der Dozent kramte ein scharfes Steakmesser aus einer Küchenschublade und widmete sich der Defloration mit akademischer Genauigkeit. Er trennte nicht zum ersten Mal Bögen aus dem 18. Jahrhundert auf. Dennoch kam er sich wie der Entdecker der Qumran-Rollen vor. Oder wie derjenige, dem es gelingen würde, das Voynich-Manuskript zu entziffern. Seine Hände zitterten, und beinahe hätte er sich verletzt. Dann verzog er sich nach nebenan ins Arbeitszimmer, rückte eine Leselampe zurecht, setzte eine Brille auf und versenkte sich in Ferdinando Galianis Gedanken. Ungewöhnlich für die Zeit des Ancien Régime beschäftigte sich der Neapolitaner mit den Eigenarten der Wahlstimme:
Wollen wir, verehrter und unübertrefflicher Leser, die diesjährige Preisfrage nach dem Wert der menschlichen Gleichheit schlüssig beantworten, müssen wir uns zunächst einer schockierenden Tatsache stellen: Wert und Nutzen einer Sache sind keine Einheit, sondern klaffen ständig auseinander, weil es ins Belieben des Menschen gestellt ist, wo er das eine und wo er das andere sieht. Völlig nutzlose Dinge wie Muschelschalen oder Pflanzenkerne erhalten zu Zeiten einen erstaunlichen Wert als Geldersatz, völlig wertlose Sachen wie eine Töpferscherbe oder ein rostiger Nagel vermögen in manchen Situationen von plötzlichem Nutzen zu sein. Wir aber neigen aus Bequemlichkeit dazu, allem Wertvollen einen Nutzen zu attestieren, so wie wir allem Nützlichen einen Wert zubilligen. Das gilt bei handfesten Dingen wie bei körperlosen Ideen, und alarmiert von den feurigen Pamphleten der Republikaner, sehe ich die Zukunft unserer Welt von der Art und Weise gefährdet, wie wir das Instrument unserer Entscheidungsfindung betrachten: die Wahlstimme.
Der Nutzen einer Wahlstimme liegt in ihrem Ja. Ein Nein lässt sich damit nur ausdrücken, wenn zuvor die Abstimmung so angelegt wird, dass sie zu einem negativen Resultat führt: »Ist jemand dagegen?« – Dann folgt ein Ja, das ein Nein ausdrückt.
Dies legt nahe, die Wahlstimme habe mit ihrem klar erkennbaren Nutzen auch nur einen einfachen, unteilbaren Wert . In Wahrheit aber ist sie eine Sklavin und hängt von der Willkür ihres Herrn ab – er, der Herr, bestimmt über ihren Wert! Verkehrt er als allseits geachteter Mann unter den Menschen, so hat sie einen hohen Wert. Ist er ein Spieler, Betrüger und Verleumder, geht ihr Wert zurück. Führt er ein gebildetes und belesenes Leben, wiegt seine Stimmeschwer, ist er dumm und voller dreister Anmaßung, hat sie geringeres Gewicht.
Halt!
Zwar handhaben wir es in mündlichen Aussprachen genau auf diese Weise, indem wir jedes Argument mit dem Leumund des
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