Tokio Killer 01 - Der erste Auftrag
Noten auf den Monitor.
«Das Problem ist, dass ich keine Noten lesen kann und Midori nichts von Computern versteht. Ich glaube, der schnellste Weg ist der, den Computer dazu zu bringen, die Klangmuster mit den Noten auf der Seite abzugleichen. Wenn er erst mal genug Daten hat, mit denen er arbeiten kann, deutet der Computer die Noten als Koordinaten in dem Gitter, so dass er dann mittels Fraktalanalyse erkennen kann, nach welchem grundsätzlichen Schema sich das Muster wiederholt. Anschließend überträgt er das Muster mit Hilfe eines Dechiffrier-Algorithmus, den ich entwickelt habe, auf Standardjapanisch, und schon sind wir drin.»
«Gut», sagte ich. «Genau so hatte ich mir das gedacht.»
Harry warf mir seinen typischen «Du bist ein absoluter Voll-trottel»-Blick zu und sagte dann: «Midori, spiel doch bitte die Noten auf dem Monitor. Mal sehen, was der Computer damit anfangen kann.»
Midori setzte sich an den Schreibtisch und hob die Finger über das Keyboard. «Moment noch», sagte Harry. «Du musst alles sehr genau spielen. Wenn du eine Note hinzufügst oder weglässt oder eine Note falsch spielst, ergibt das gleich ein neues Muster, und der Computer gerät durcheinander. Du musst genau das spielen, was auf dem Bildschirm erscheint. Schaffst du das?»
«Bei einem ganz normalen Song wäre das kein Problem. Aber das hier ist eine ungewöhnliche Komposition. Die muss ich erst ein paarmal üben. Kannst du mich noch mal von dem Computer abkoppeln?»
«Klar.» Er bewegte die Maus und klickte einmal. «Leg los. Sag, wenn du so weit bist.»
Midori blickte einen Moment auf den Bildschirm, den Kopf ganz gerade und reglos, und ihre Finger spielten ganz leicht in der Luft, nahmen die Klänge auf, die sie im Kopf hörte. Dann legte sie sachte die Hände auf die Tasten, und zum ersten Mal hörten wir die unheimliche Melodie der Informationen, die Kawamura das Leben gekostet hatten. Ich hörte beklommen zu, während Midori spielte. Nach ein paar Minuten sagte sie zu Harry: «Okay, ich bin so weit. Schließ mich an.»
Harry bewegte die Maus. «Du bist drin. Lass ihn was hören.»
Wieder schwebten Midoris Finger über die Tasten, und das seltsame Requiem erfüllte den Raum. Als sie am Ende der Notation angekommen war, hielt sie inne und sah Harry an, die Augenbrauen fragend gehoben.
«Er hat die Daten», sagte er. «Mal sehen, was er damit anstellt.»
Wir beobachteten den Bildschirm, warteten auf die Ergebnisse, und keiner von uns sagte ein Wort.
Nach etwa einer halben Minute ertönte eine seltsame, geisterhafte Notenfolge aus den Computerlautsprechern, Echo dessen, was Midori kurz zuvor gespielt hatte.
«Er ist dabei, die Töne zu zerlegen», sagte Harry. «Er sucht nach dem Grundmuster.»
Schweigend warteten wir etliche Minuten. Schließlich sagte Harry: «Ich sehe keine Fortschritte. Vielleicht reicht die Rechenleistung nicht aus.»
«Wie kannst du sie erhöhen?», fragte Midori.
Harry zuckte die Achseln. «Ich könnte versuchen, mich bei Livermore reinzuhacken, um deren Supercomputer anzuzapfen. Aber die haben inzwischen bessere Sicherheitssysteme – das könnte ein Weilchen dauern.»
«Du meinst, so ein Supercomputer schafft das?», fragte ich.
«Möglich», antwortete er. «Eigentlich tut es jede passable Rechnerkapazität. Aber das Problem ist die Zeit – je mehr Kapazität, desto mehr Möglichkeiten kann der Computer in kürzerer Zeit ausprobieren.»
«Also würde ein Supercomputer die Sache beschleunigen», sagte Midori, «wir wissen nur nicht wie sehr.»
Er nickte: «Stimmt genau.» Einen Moment lang herrschte enttäuschte Stille. Dann sagte Harry: «Lasst uns doch mal nachdenken. Wieso müssen wir das Ding überhaupt dechiffrieren?»
Ich wusste, worauf er hinauswollte: Derselbe verlockende Gedanke war mir in der Parteizentrale gekommen, als Yamaoto nach der CD fragte.
«Wie meinst du das?», fragte Midori.
«Na ja, was bezwecken wir denn eigentlich? Die CD ist praktisch Dynamit; wir wollen sie doch bloß entschärfen. Die Eigentümer wissen, dass sie weder kopiert noch elektronisch übertragen werden kann. Wir könnten sie zum Beispiel entschärfen, indem wir sie ihnen zurückgeben.»
«Nein!», sagte Midori, stand vom Schreibtisch auf und sah Harry an. «Für das, was auf dieser CD ist, hat mein Vater sein Leben aufs Spiel gesetzt. Sie soll dahin, wo er sie hinhaben wollte!»
Harry hob kapitulierend beide Hände. «Schon gut, schon gut, war nur so ein Gedanke. Ich will euch bloß
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