Tokio Killer 01 - Der erste Auftrag
Zug tatsächlich Reporter war: Franklin Bulfinch, Leiter der Tokioter Redaktion der Zeitschrift Forbes. Bulfinch war einer von nur fünf männlichen Ausländern, die im Daikanyama-Apartmentkomplex wohnten, in den ich den Fremden hatte hineingehen sehen. Harry hatte bloß die Namen im Einwohnermeldeamtsverzeichnis für diesen Bezirk mit denen bei der Einwanderungsbehörde abgleichen müssen. Letztere hatte Informationen über sämtliche in Japan wohnhafte Ausländer, einschließlich Alter, Geburtsort, Adresse, Arbeitgeber, Fingerabdrücke und Foto. Mit diesen Informationen hatte Harry rasch festgestellt, dass die anderen Ausländer der Beschreibung, die er von mir bekommen hatte, nicht entsprachen. Da er sich schon Zugang zum Computer der Einwanderungsbehörde verschafft hatte, konnte er mir – umsichtig, wie er war – gleich das Foto von Bulfinch mit hochladen, damit ich mich vergewissern konnte, ob wir über denselben Mann sprachen. Dem war so.
Harry hatte mir empfohlen, einen Blick in forbes.com zu werfen, wo Bulfinchs Artikel archiviert waren. Ich rief die Website auf und las mehrere Stunden Bulfinchs Berichte über angebliche Verbindungen zwischen Regierung und Yakuza, darüber, dass die Liberaldemokratische Partei mit Drohungen, Bestechung und Einschüchterung Einfluss auf die Presse ausübte, über die Kosten dieser ganzen Korruption für den Durchschnittsjapaner.
Bulfinchs auf Englisch verfasste Artikel bewirkten in Japan nur wenig, denn sie weckten anscheinend nicht das Interesse der Medien im Lande. Ich konnte mir vorstellen, wie frustrierend das für ihn sein musste. Andererseits war das vermutlich der Grund, warum ich noch nicht beauftragt worden war, ihn zu beseitigen.
Ich vermutete, dass Kawamura eine von Bulfinchs Quellen gewesen war. Deshalb war der Journalist an dem Morgen im Zug gewesen und hatte Kawamura durchsucht. Ich empfand eine vage Bewunderung für seine Skrupellosigkeit: Sein Informant hat direkt vor seinen Augen einen Herzinfarkt und er hat nichts anderes zu tun, als die Taschen des Mannes nach einer Lieferung zu durchsuchen.
Irgendwer musste hinter den Kontakt gekommen sein, hatte offenbar das Risiko, einen ausländischen Redaktionschef auszuschalten, für zu groß gehalten und stattdessen einfach die undichte Stelle beseitigen lassen. Es musste wie ein natürlicher Tod aussehen, sonst hätten sie Bulfinch noch mehr Wasser auf seine Mühle geliefert. Also beauftragten sie mich.
Na gut. Es hatte kein B-Team gegeben. Mein Verdacht gegen Benny war falsch gewesen. Die Sache konnte ich abhaken.
Ich sah auf die Uhr. Es war kurz vor fünf. Wenn ich wollte, konnte ich es bequem bis sieben Uhr, dem Beginn des ersten Sets, ins Blue Note schaffen.
Mir gefiel ihre Musik, und ich war gern mit ihr zusammen. Sie war attraktiv, und ich spürte, dass sie sich auch zu mir hingezogen fühlte. Eine verlockende Kombination.
Geh einfach hin, dachte ich. Amüsier dich. Wer weiß, was danach passiert? Könnte eine gute Nacht werden. Die Chemie stimmt. Bloß dieses eine Mal. Könnte gut werden.
Aber das war doch alles Schwachsinn. Ich konnte nicht sagen, was nach ihrem Auftritt passieren würde, aber Midori kam mir nicht wie eine Frau für eine Nacht vor. Genau deshalb wollte ich sie sehen, und genau deshalb ging es nicht.
Was ist los mit dir, dachte ich. Du brauchst doch nur eine von deinen Bekannten anzurufen. Vielleicht Keiko-chan, mit ihr ist es doch immer ganz lustig. Ein spätes Dinner, vielleicht in dem kleinen italienischen Restaurant in Hibiya, ein paar Gläser Wein, ein Hotel.
Doch im Augenblick war die Aussicht auf eine Nacht mit Keiko-chan seltsam deprimierend. Vielleicht tat mir etwas Sport ganz gut. Ich beschloss, zum Kodokan zu fahren, einem der Orte, wo ich Judo trainiere.
Das Kodokan, die «Schule zum Erlernen des Weges», wurde 1882 von Kano Jigoro gegründet, dem Erfinder des modernen Judo. Kano, der an verschiedenen Schulen Schwert- und Nahkampf gelernt hatte, entwickelte eine neue Kampfsportart, die auf dem Prinzip gründete, körperliche und geistige Energie möglichst wirksam einzusetzen. Salopp formuliert ist Judo im Vergleich zum in der westlichen Welt so beliebten Ringen das, was Karate im Vergleich zum Boxen ist. Zur Praxis gehören nicht Schläge und Tritte, sondern Würfe und Griffe, ergänzt durch ein Arsenal von brutalen Gelenkhebeln und Würgetechniken, die beim Training natürlich allesamt mit äußerster Vorsicht anzuwenden sind. Judo heißt wörtlich übersetzt «der
Weitere Kostenlose Bücher