Tokio Killer 01 - Der erste Auftrag
kann.
Ihre Finger ruhten leicht an ihrem Glas, und ohne nachzudenken, nahm ich ihre Hände und hob sie vor mein Gesicht. «Ich wette, ich könnte dir an den Händen ansehen, dass du Klavier spielst», sagte ich. «Deine Finger sind schlank, aber sie sehen stark aus.»
Sie drehte ihre Hände herum, so dass sie jetzt meine hielt. «Die Hände eines Menschen verraten viel», sagte sie. «In meinen siehst du das Klavier. In deinen sehe ich Bushido. Aber an den Fingergliedern, nicht an den Knöcheln ... was machst du, Judo? Aikido?»
Bushido bedeutet der Weg des Kampfes, der Weg des Kriegers. Sie meinte die Schwielen, die ich an allen Fingern am ersten und zweiten Glied habe, die Folge des jahrelangen Zerrens und Reißens an den schweren Baumwoll- Judogi . Sie hielt meine Hände sachlich interessiert, als wollte sie sie untersuchen, aber ihre Berührung war sanft, und ich spürte ein Prickeln, das mir die Arme hinauflief.
Ich zog meine Hände weg, weil ich Angst davor hatte, was sie an ihnen noch alles ablesen könnte. «Inzwischen nur noch Judo. Griffe, Würfe, Würgetechniken – ist die praktischste Kampfkunst überhaupt. Und das Kodokan ist der beste Ort auf der Welt, um Judo zu lernen.»
«Ich kenne das Kodokan. Ich habe mal Aikido gemacht, in einem kleinen Dojo in Ochanomizu, nur eine Haltestelle von hier mit der Chuo-Bahn.»
«Wieso lernt eine Jazzpianistin denn Aikido?»
«Das war, bevor ich mich ernsthaft dem Klavier gewidmet habe, und ich hab damit aufgehört, weil es die Hände zu sehr beansprucht. Damals war es ganz nützlich, weil ich eine Zeit lang in der Schule schikaniert wurde – mein Vater war mal länger beruflich in den Staaten. Ich hab dir ja gesagt, ich weiß, wie es für ein Kind ist zurückzukommen.»
«Und hat Aikido geholfen?»
«Zuerst nicht. Es hat einige Zeit gedauert, bis ich gut war. Aber die Schikanen haben mich angespornt weiterzumachen. Einmal hat mich eine Mitschülerin am Arm gepackt, und ich hab sie mit einem San-kyo überwältigt. Danach wurde ich in Ruhe gelassen. Zum Glück, San-kyo war nämlich der einzige Wurf, den ich richtig gut konnte.»
Ich sah sie an und stellte mir vor, wie es wohl wäre, das San-kyo- Opfer dieser Entschlossenheit zu sein, die sie jetzt in Jazzkreisen immer bekannter, vielleicht sogar berühmt machte.
Sie hob ihr Glas mit den Fingerspitzen beider Hände, und mir fiel die Sparsamkeit der Bewegung bei dieser schlichten Handlung auf. Es war voller Anmut, schön anzusehen.
«Du machst Sado», sagte ich, sprach spontan aus, was ich dachte. Sado ist die japanische Teezeremonie. Dabei geht es darum, durch verfeinerte, stilisierte Bewegungen bei der Zubereitung und beim Servieren des Tees Wabi und Sabi zu erreichen: eine Form der mühelosen Eleganz im Denken und in der Bewegung, eine Reduktion auf das Wesentliche, um auf anmutige Weise einen größeren, bedeutenderen Gedanken darzustellen, der andernfalls in den Hintergrund treten würde.
«Nicht mehr seit meiner Teenagerzeit», antwortete sie, «und auch damals war ich nie besonders gut. Ich wundere mich, dass du das gesehen hast. Vielleicht merkt man es nicht mehr, wenn ich noch etwas trinke.»
«Nein, bitte nicht», sagte ich und musste gegen das Gefühl ankämpfen, in diese dunklen Augen hineingesogen zu werden. «Ich mag Sado.»
Sie lächelte. «Was magst du noch?»
Wo führt das hin? « Ich weiß nicht. Vieles. Ich mag es, dich spielen zu sehen.»
«Beschreib es mir.»
Ich nippte an dem Ardbeg, Torf und Rauch mäanderten mir über die Zunge in die Kehle. «Ich mag es, dass du ruhig anfängst und dann darauf aufbaust. Ich mag es, wie du die Musik spielst und dass man, wenn du so richtig in Fahrt kommst, plötzlich das Gefühl hat, als würde die Musik dich spielen. Du verlierst dich richtig darin. Wenn ich spüre, dass das mit dir passiert, dann geht es mir genauso. Ich werde aus mir herausgezogen. Ich spüre, wie lebendig du dich dann fühlst, und dann kann ich mich auch so fühlen.»
«Und weiter?»
Ich lachte. «Und weiter? Reicht das noch nicht?»
«Nicht, wenn es noch mehr gibt.»
Ich drehte das Glas zwischen den Händen vor und zurück, betrachtete die Lichtreflexe darin.
«Ich habe das Gefühl, dass du beim Spielen nach etwas suchst, aber dass du es nicht finden kannst. Also suchst du noch angestrengter, aber es entgleitet dir trotzdem, und die Melodie wird allmählich gereizt, aber dann kommst du an den Punkt, wo du anscheinend erkennst, dass du es nicht finden wirst, dass es
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