Tokio Killer - 02 - Die Rache
Yukiko.»
Yukiko. Endlich lernen wir uns kennen.
Ich betrachtete sie: eine große Frau mit langem Haar, das im Bühnenlicht wie mondbeschienene Flüssigkeit glänzte, so schwarz war es. Es fiel wellig um die sanften Konturen ihrer Schultern, über die Schatten ihrer Taille, um die Wölbung ihres Hinterns. Sie war feingliedrig, mit zarter, weißer Haut, hohen Wangenknochen und kleinen, festen Brüsten. Das Haar hochgesteckt, ein bisschen mehr Stoff am Leib, und sie wäre die edelste Kurtisane der Welt.
Diese Frau und Harry?, dachte ich. Nie im Leben.
«Sie ist wunderschön», sagte ich, weil ich meinte, ihr umwerfendes Aussehen verlangte einen Kommentar.
«Das sagen viele», erwiderte Naomi.
Irgendetwas lauerte in ihrer bewusst neutralen Erwiderung. «Finden Sie nicht?», fragte ich.
Sie zuckte die Achseln. «Nicht mein Typ.»
«Mich beschleicht der Verdacht, dass Sie sie nicht mögen.»
«Sagen wir, sie ist zu Dingen bereit, die ich nicht mache.»
Mit Harry? «Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, ich wäre nicht neugierig.»
Sie schüttelte den Kopf, und ich wusste, ich würde nicht weiter kommen – nicht mal nach drei Whiskys.
Schneekind, weiß Gott. Die Schönheit dieser Frau hatte etwas Kaltes, ja Berechnendes an sich. Irgendwas stimmte hier nicht, aber wie zum Teufel sollte ich das Harry beibringen? Ich stellte mir das Gespräch vor: Harry, ich war im Damask Rose, weil ich mir ein Bild von der Frau machen wollte. Glaub mir, mein Freund, die ist nicht deine Kragenweite. Außerdem habe ich ganz allgemein ein schlechtes Gefühl bei ihr. Lass die Finger davon.
Ich wusste, wie ihm im Augenblick zumute war: Sie war für ihn das Beste, was ihm je widerfahren war, und er würde sich dieses wunderbare Geschenk durch nichts und niemanden nehmen lassen. Er würde jeden Einwand einfach mit einer Erklärung abtun, die ihm in den Kram passte, oder schlichtweg ignorieren. Ein guter Rat von einem Freund wäre sinnlos. Oder schlimmer.
Ich würde aus Naomi nichts mehr herausbekommen. Ich könnte ein bisschen weiterforschen, wenn ich wieder in Osaka war. Harry war mein Freund, und das war ich ihm schuldig. Aber das eigentliche Problem war nicht, herauszufinden, was die Frau im Schilde führte. Das eigentliche Problem war, Harry dazu zu bringen, es auch zu glauben.
«Wollen Sie sie sich ansehen?», fragte Naomi.
Ich schüttelte den Kopf. «Tut mir Leid. Ich war in Gedanken woanders.»
Wir unterhielten uns wieder über Brasilien. Sie erzählte von der Vielfalt des Landes, von der lebensfrohen Atmosphäre, der Musik, vor allen Dingen aber von der Schönheit des Landes, der Tausende von Meilen langen, atemberaubenden Küste, der riesigen Pampas im Süden, dem undurchdringlichen Amazonasbecken. Vieles davon wusste ich bereits, aber es machte mir Spaß, ihr zuzuhören und sie dabei anzuschauen.
Ich musste daran denken, was sie über Yukiko gesagt hatte: Sagen wir, sie ist zu Dingen bereit, die ich nicht mache.
Aber das hieß eigentlich nur, dass Yukiko schon länger im Geschäft war. Unschuld ist nun mal zerbrechlich.
Ich hätte sie nach ihrer Telefonnummer fragen können. Ich hätte ihr erzählen können, ich würde doch noch länger in der Stadt bleiben, etwas in der Art. Sie war sehr jung, aber ich mochte das Gefühl, das sie mir gab. Sie löste in mir eine verwirrende Mischung von Emotionen aus: Nähe, weil bei uns beiden gemischtes Blut in den Adern floss und wir früh einen Elternteil verloren hatten; den väterlichen Wunsch, sie vor den Fehlern zu bewahren, die sie machen würde; ein trauriges sexuelles Verlangen, das wie eine Elegie auf Midori war.
Es war schon sehr spät. «Verzeihen Sie mir, wenn ich auf den Lapdance verzichte?», fragte ich sie.
Sie lächelte. «Kein Problem.»
Ich stand auf. Sie erhob sich ebenfalls.
«Moment», sagte sie. Sie holte einen Stift hervor. «Geben Sie mir Ihre Hand.»
Ich streckte ihr die linke Hand hin. Sie hielt sie fest und fing an, mir etwas auf die Handfläche zu schreiben. Sie schrieb langsam. Ihre Finger waren warm.
«Das ist meine private E-Mail-Adresse», sagte sie, als sie fertig war. «Die gebe ich Gästen normalerweise nicht, also geben Sie sie bitte nicht weiter. Wenn Sie wieder nach Salvador reisen, sagen Sie mir Bescheid. Ich kann Ihnen gute Tipps geben.» Sie lächelte. «Und ich würde mich auch freuen, von Ihnen zu hören, wenn Sie mal wieder in Tokio sind.»
Ich lächelte in ihre grünen Augen. Mein Lächeln kam mir seltsam traurig vor.
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