Tokio Killer - 02 - Die Rache
zuvor wollte ich einen GAG ausarbeiten, den Harry vorher absolvieren sollte.
Für die Planung der Strecke brauchte ich fast den ganzen Nachmittag. Jede Kleinigkeit musste stimmen, um ihren Zweck zu erfüllen. Der Weg musste durch Gegenden führen, die Harry kannte, weil er keine Zeit zum Üben haben würde. An etlichen Nahtstellen war außerdem das Timing wichtig, und ich musste sowohl Harrys als auch meine Strecke ganz abgehen, um mich zu vergewissern, dass unsere Wege sich nur wie geplant kreuzen würden. Unterwegs machte ich mir ausführliche Notizen auf einem Schreibblock, den ich in einem Geschäft für Bürobedarf gekauft hatte.
Als ich fertig war, ging ich in ein Café und zeichnete auf ein einzelnes Blatt eine Karte mit Erläuterungen. Dann machte ich mich auf den Weg nach Shin-Okubo, das nördlich von Shinjuku liegt und eine Bastion der koreanischen Mafia ist, wo es von nicht zugelassenen Ärzten und allen möglichen illegalen Läden in heruntergekommenen Mietshäusern nur so wimmelt, und kaufte gegen bar ein unregistriertes Handy.
Meine nächste Station war Harrys Viertel in Iikura, direkt südlich von Roppongi, wo ich nicht weit von seiner Wohnung einen geeigneten Lawson-Supermarkt entdeckte. Ich stöberte in der Zeitschriftenabteilung herum und steckte die Karte gefaltet in eine Zeitschrift.
Ich rief ihn um sieben Uhr am Abend von einer Telefonzelle aus an. «Aufstehen, du Schlafmütze», sagte ich zu ihm.
«He, was ist los?», fragte er. «Ich dachte, ich hör ein Weilchen nichts mehr von dir.»
Er klang nicht verschlafen. Vielleicht war er schon länger auf und hatte Yukiko zur Arbeit gebracht.
«Ich habe dich vermisst», sagte ich. «Bist du allein?»
«Ja.»
«Du musst mir einen Gefallen tun.»
«Schieß los.»
«Hast du gerade Zeit?»
«Ja.»
«Schön. Ich möchte, dass du nach draußen gehst und mich von einer Telefonzelle aus anrufst. Da ist eine links vom Lawson auf der Azabu Iikura Katamachi, wenn du auf den Laden blickst. Ruf von dort aus an. Ich gebe dir meine Nummer.»
«Die Leitung ist in Ordnung, das weißt du doch.»
«Nur für alle Fälle. Die Sache ist heikel.» Ich benutzte unseren üblichen Code, um ihm meine Handynummer zu geben.
Zehn Minuten später klingelte das Gerät. «Also, was ist denn so heikel?», fragte er.
«Ich glaube, du wirst verfolgt.»
Es trat kurzes Schweigen ein. «Ist das dein Ernst?»
«Blick dir nicht dauernd über die Schulter. Ich möchte nicht, dass du sie warnst, falls sie dich gerade beobachten. Du würdest sie so ohnehin nicht entdecken.»
Wieder Schweigen. Dann: «Ich kapier das nicht. Ich pass immer höllisch auf.»
«Ich weiß.»
«Wieso glaubst du, ich werde verfolgt?»
«Nicht am Telefon.»
«Sollen wir uns treffen?»
«Ja. Aber vorher musst du was abholen. Geh zu Lawson nebenan, in die Zeitschriftenabteilung. Ganz hinten in einer Ausgabe vom TV Taro dieser Woche, in der zweitletzten im Stapel, findest du ein gefaltetes Blatt Papier. Nimm es raus. Aber lass alles ganz normal aussehen, falls jemand in der Nähe ist. Kauf eine Tüte Milch, ein Fertiggericht, als würdest du was Schnelles fürs Abendessen brauchen. Geh nach Hause, warte eine halbe Stunde, dann gehst du nach draußen und rufst mich noch einmal von einem anderen Telefon an. Stell dich auf einen etwa zweistündigen Spaziergang ein.»
«Alles klar.»
Eine halbe Stunde verging. Das Handy klingelte wieder.
«Hast du den Zettel?», fragte ich.
«Ja. Ich sehe, was du vorhast.»
«Gut. Folge einfach der Route. Geh um Punkt halb neun los. Wenn du durch bist, warte auf mich an dem Treffpunkt, den ich aufgeschrieben habe. Du weißt, wie der Treffpunkt zu interpretieren ist.»
Mit «interpretieren» wollte ich ihn daran erinnern, dass der angegebene Treffpunkt nicht der eigentliche war, sondern dass er den richtigen mittels unseres üblichen Codes in den Gelben Seiten ermitteln musste. Falls Harry verfolgt wurde und seine Verfolger jetzt zuschlugen, würden sie den Zettel finden, den falschen Treffpunkt lesen und mir dort vergeblich auflauern.
«Klar», sagte er.
«Bleib ruhig. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich erklär dir alles, wenn wir uns sehen. Und keine Sorgen, wenn ich mich etwas verspäte.»
«Ich mach mir keine Sorgen. Bis später.»
Ich legte auf.
Harry war sauber gewesen, als wir uns im Teise getroffen hatten, aber das hieß nicht, dass er davor auch sauber gewesen war. Ich hatte ihm beigebracht, sich zu Beginn eines GAG unauffällig zu verhalten,
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