Tokio Killer - 02 - Die Rache
viele Menschen japanischer Abstammung, dass ich ganz sicher nicht auffallen würde.
Rio de Janeiro wäre aufgrund des kulturellen Angebots, des Klimas und der großen Zahl von Touristen ideal. Die Stadt ist weit entfernt von sämtlichen Spionage-, Terrorismus- und Interpolbrennpunkten auf der Welt, sodass ich mir relativ geringe Sorgen um Überwachungskameranetzwerke und andere natürliche Feinde eines Flüchtlings machen musste. Ich hätte sogar wieder mit Judo anfangen können, oder zumindest mit einem seiner Verwandten: Die brasilianische Familie Gracie hatte einen Vorläufer des Judo, Jiu-Jitsu, das von japanischen Immigranten ins Land gebracht worden war, zu dem wohl ausgeklügeltsten Bodenkampfsystem, das es auf der ganzen Welt gibt, entwickelt. Jiu-Jitsu hat in Brasilien begeisterte Anhänger und erfreut sich inzwischen weltweiter Beliebtheit, auch in Japan.
Außer dem richtigen Zielort hatte ich auch noch eine absolut sichere zweite Identität, die ich mir seit langem für den Tag aufhob, an dem ich vollständiger denn je von der Bildfläche verschwinden müsste. Etwa zehn Jahre zuvor hatte ich einen gewissen Funktionär überwacht, den ich eliminieren sollte. Dabei waren mir einige äußerliche Ähnlichkeiten zwischen dem Mann und mir aufgefallen – Alter, Größe, Körperbau –, selbst das Gesicht war mir nicht allzu unähnlich. Zu allem Überfluss hatte die Zielperson einen wunderbaren Namen: Taro Yamada, das japanische Äquivalent zu John Smith. Ich hatte ein bisschen nachgeforscht und in Erfahrung gebracht, dass er keine nahen Angehörigen hatte. Es würde ihn daher niemand so sehr vermissen, dass er nach ihm suchen würde, falls Yamada eines Tages verschwand.
Wie sich in vielen Büchern nachlesen lässt, kann man sich eine neue Identität zulegen, indem man den Namen eines Verstorbenen benutzt. Das funktioniert natürlich nur, wenn keine amtliche Sterbeurkunde existiert. Sobald irgendwelche Behörden eingeschaltet werden – zum Beispiel, wenn die Person in einem Hospiz oder Krankenhaus verstorben ist oder beerdigt oder eingeäschert wird, was, wenn man es recht bedenkt, auf so ziemlich jeden zutrifft, oder wenn jemand eine Vermisstenanzeige erstattet –, wird eine Sterbeurkunde ausgestellt.
Wenn du natürlich jemanden kennst, von dem nur du weißt, dass er tot ist, weil du zufällig derjenige warst, der ihn getötet hat, dann sieht die Sache schon anders aus. Zugegeben, du musst die Leiche verschwinden lassen, und zwar so, dass sie niemals gefunden wird – eine riskante und häufig unappetitliche Angelegenheit und weiß Gott nicht jedermanns Sache. Doch wenn du das geschafft hast und dazu noch genau weißt, dass niemand die fragliche Person für tot oder für vermisst erklären lässt, dann hast du etwas in der Hand, das möglicherweise von großem Wert sein kann. Wenn du außerdem weißt, dass die Person kreditwürdig ist, weil du ihre laufenden Rechnungen weiter bezahlt hast, dann kommt das schon fast einem Lottogewinn gleich.
Also führte ich meinen Auftrag hinsichtlich des unglücklichen Mr. Yamada aus, teilte das aber meinem Klienten nicht mit. Stattdessen sagte ich, dass die Zielperson «wie vom Erdboden verschwunden» sei, weil ich mir das Wortspiel einfach nicht verkneifen konnte. Vielleicht hatte er Wind davon bekommen, dass ein Auftragskiller auf ihn angesetzt worden war? Der Klient engagierte einen Privatdetektiv, der prompt bestätigte, dass alle Indizien auf eine überstürzte Flucht hindeuteten: ein aufgelöstes Bankkonto; ein Nachsendeauftrag zu einem Postfach im Ausland; das Fehlen von Kleidungsstücken und anderen persönlichen Gegenständen aus der Wohnung. Selbstverständlich hatte ich mich um all das gekümmert. Der Klient ließ mich wissen, spurloses Verschwinden sei seinen Zwecken ebenso dienlich und ich müsse mir nicht die Mühe machen, Yamada aufzuspüren, um meinen Auftrag auszuführen. Bezahlt wurde ich trotzdem – keiner möchte, dass sich jemand wie ich ungerecht behandelt fühlen könnte –, und die Sache war erledigt. Der Klient hat inzwischen längst selbst ein unglückliches Ende gefunden, und es ist genug Zeit vergangen, um Yamada-san von den Toten auferstehen zu lassen: Eine kleine Beraterfirma zu eröffnen, Steuern zu bezahlen, für eine glaubwürdige Postanschrift zu sorgen.
Dann brauchte ich nur noch in Yamadas Identität zu schlüpfen und mein neues Leben könnte beginnen. Doch zunächst musste Taro Yamada das tun, was jeder in seiner Situation tun
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