Tokio Killer - 02 - Die Rache
Etage, wo mir mit Ausnahme der Toji-Pagode und eines Stückchens des Honganji-Tempeldaches aus allen Richtungen bloß austauschbare, urbane Trostlosigkeit entgegenschlug. Ich dachte an das Gedicht des wandernden Barden Basho, das mich bewegt hatte, als meine Mutter es mir bei meinem ersten Besuch in der Stadt vortrug. Wir standen auf dem hohen Holzgerüst des Kiyomizu-Tempels und blickten auf die stille Stadt vor uns, als sie meine Hand nahm und zu meiner Überraschung in ihrem Japanisch mit starkem Akzent sagte:
Kyou nite mo kyou natsukashiya …
Obwohl in Kyoto, sehne ich wich nach Kyoto …
Doch die Bedeutung des Gedichts, das früher Ausdruck einer unsäglichen, unerfüllbaren Sehnsucht war, hatte sich geändert. Wie die Stadt selbst, so war es jetzt traurig und absurd.
Ich lächelte freudlos und dachte, wenn irgendwas hier mir gehört hätte, dann hätte ich es besser gepflegt. Das hat man davon, wenn man auf den Staat vertraut. Die Menschen sollten es eigentlich besser wissen.
Ich spürte meinen Pager summen. Ich zog ihn vom Gürtel und sah den Code, den Tatsu und ich vereinbart hatten, um uns gegenseitig zu identifizieren, zusammen mit einer Telefonnummer. Irgendwie hatte ich mit so etwas gerechnet, aber noch nicht so bald. Scheiße, dachte ich. Ich bin so nah dran.
Ich nahm den Fahrstuhl runter in die Hotelhalle und ging auf die Straße. Als ich in einer einigermaßen ruhigen Gegend ein öffentliches Telefon gefunden hatte, schob ich eine Telefonkarte hinein und tippte Tatsus Nummer. Ich hätte ihn einfach ignorieren können, aber wer weiß, was er dann getan hätte. Es war besser, wenigstens zu erfahren, was er wollte, und dabei weiterhin so zu tun, als wollte ich mit ihm kooperieren.
Es klingelte nur ein einziges Mal, dann hörte ich seine Stimme. «Moshi moshi», sagte er, ohne seinen Namen zu nennen.
«Hallo», erwiderte ich.
«Bist du noch immer an demselben Ort?»
«Warum sollte ich nicht?», fragte ich und gab mir keine Mühe, meinen Sarkasmus zu verbergen.
«Ich dachte, dass du nach unserer letzten Begegnung vielleicht den Wunsch hättest … wieder auf Reisen zu gehen.»
«Vielleicht ja. Bin noch nicht dazu gekommen. Ich dachte, du wüsstest das.»
«Ich versuche, deine Privatsphäre zu respektieren.»
Mistkerl. Selbst wenn er fleißig dabei war, mein Leben zu ruinieren, brachte er mich noch immer zum Lächeln. «Das weiß ich zu schätzen», erklärte ich.
«Ich würde dich gern wiedersehen, wenn es dir nichts ausmacht.»
Ich zögerte. Er wusste bereits, wo ich wohnte. Er hätte kein Treffen woanders arrangieren müssen, wenn er an mich rankommen wollte. «Freundschaftsbesuch?», fragte ich.
«Das überlasse ich dir.»
«Freundschaftsbesuch.»
«Also gut.»
«Wann?»
«Ich bin heute Abend in der Stadt. Derselbe Treffpunkt wie beim letzten Mal?»
Ich zögerte erneut, sagte dann: «Ich weiß nicht, ob wir da reinkommen. Aber ganz in der Nähe ist ein Hotel mit einer guten Bar. Ganz nach meinem Geschmack. Du weißt, was ich meine?»
Ich meinte die Bar im Osaka Ritz Carlton.
«Ich denke, ich finde es.»
«Wir treffen uns in der Bar, um die gleiche Zeit wie beim letzten Mal.»
«Ja. Ich freue mich darauf, dich zu sehen.» Eine Pause. Dann: «Danke.»
Ich legte auf.
7
I CH FUHR MIT DER H ANKYU -B AHN zurück nach Osaka und ging direkt zum Ritz. Ich wollte sicherheitshalber mindestens einige Stunden früher an Ort und Stelle sein, um auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein. Ich bestellte eine Obst- und Käseplatte und trank Darjeeling-Tee, während ich wartete.
Tatsu war pünktlich wie immer. Er war auch so nett, sich langsam zu bewegen, damit ich mich vergewissern konnte, dass er keine Überraschungen plante. Er setzte sich mir gegenüber in einen der Polstersessel, schaute sich um, betrachtete die helle Holztäfelung, die Wandleuchter und Lüster.
«Ich brauche noch einmal deine Hilfe», sagte er gleich darauf.
Wie nicht anders zu erwarten. Und ohne Umschweife, wie immer. Aber ich ließ ihn eine Weile schmoren, bevor ich antwortete. «Möchtest du einen Whiskey?», fragte ich. «Die haben hier einen guten zwölf Jahre alten Cragganmore.»
Er schüttelte den Kopf. «Verlockend, aber mein Arzt hat mir geraten, derlei Genüssen abzuschwören.»
«Ich wusste nicht, dass du auf deinen Arzt hörst.»
Er spitzte die Lippen, als käme jetzt ein schmerzliches Eingeständnis. «Auch meine Frau ist in dieser Hinsicht sehr streng geworden.»
Ich sah ihn an und
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