Tokio Killer - 02 - Die Rache
Reihe von Offshorefirmen. Falls sich dahinter individuelle Namen verbargen, so existierten sie nur auf Firmendokumenten in irgendwelchen Safes, nicht in Computern, wo ich an sie hätte rankommen können. Wer auch immer den Club besaß, er wollte nicht, dass die Welt davon erfuhr, was an und für sich nicht verwerflich war.
Harry, das alte Hacker-Genie, hätte höchstwahrscheinlich mehr herausgefunden. Ein Jammer, dass ich ihn nicht fragen konnte. Ich würde mich darauf beschränken müssen, ihn zu warnen und ihm zu empfehlen, selbst ein paar Nachforschungen anzustellen. Es war frustrierend, aber ich sah keine andere Möglichkeit. Vielleicht würde er es falsch auffassen, aber ich war ja ohnehin nicht mehr lange hier. Und wer weiß?, dachte ich. Vielleicht liegst du ja falsch. Vielleicht findet er auch nichts.
Auch über Naomi stöberte ich ein paar Informationen auf. Naomi Nascimento, brasilianische Staatsbürgerin, am 24. August 2000 im Rahmen des JET-Austauschprogramms in Japan angekommen. Mit Hilfe der E-Mail-Adresse, die sie mir gegeben hatte, fand ich heraus, wo sie wohnte – im Lion’s Gate Building, ein Wohnkomplex in Azabujuban 3-chome. Ansonsten nichts.
Als ich meine Abreisevorbereitungen so gut wie abgeschlossen hatte, gönnte ich mir den Luxus, einige der Orte in der Nähe von Osaka aufzusuchen, von denen ich wusste, dass ich sie nie wiedersehen würde. Manche waren noch so, wie ich sie von Ausflügen in meiner Kindheit in Erinnerung hatte. Da war zum Beispiel Asuka, Geburtsstätte des Yamato-Japan, mit seinen längst leeren Hügelgräbern, in deren Flächen phantastische Bilder von Tieren und Halbmenschen geritzt sind, ihre Schöpfer und ihre Bedeutung untergegangen im zeitlosen Schwanken der Reisfelder; Koya-san, der heilige Berg, angeblich der Ruheort von Dobo Daishi, Japans großem Heiligen, von dem man sagt, er verweile noch in der Nähe der gewaltigen Nekropolis auf dem Berg, nicht tot, sondern in Meditation versunken; und Nara, vor rund dreizehn Jahrhunderten für kurze Zeit die Hauptstadt des neuen Staates, wo es einem passieren kann, wenn der Morgen jung genug ist und die Touristenflut noch nicht ihren täglichen Höchststand erreicht hat, dass man an einem einsamen Greis vorbeikommt, der über das Pflaster schlurft, die Schultern von der Last des Alters gebeugt, sein Gang so zeitlos und entschlossen wie die alte Stadt selbst.
Es mag seltsam anmuten, dass ich den Drang verspürte, mich von all dem zu verabschieden. Schließlich hatte nichts davon wirklich je mir gehört. Schon als Kind war mir klar geworden, dass ich als Halbjapaner eben zur Hälfte etwas anderes war, und wenn man halb etwas anderes ist, ist man chigatte. Chigatte bedeutet «anders», aber es bedeutet auch «falsch». Die Sprache unterscheidet da ebenso wenig wie die Kultur.
Ich fuhr auch nach Kyoto. Seit über zwanzig Jahren hatte ich keine Gelegenheit mehr gefunden, die Stadt zu besuchen, und ich musste bestürzt feststellen, dass die elegante, lebendige Metropole, die ich in Erinnerung hatte, fast tot war, verschwunden wie ein ungeliebter Garten, den man faden, emsigen Unkräutern überlässt. Wo war das monumentale Dach des Higashi-Hon-ganji-Tempels, das zwischen den angrenzenden kleineren Ziegeldächern aufstieg, wie das Kinn einer Prinzessin zwischen Höflingen? Der herrliche Anblick, der sich einst den Reisenden bei ihrer Ankunft geboten hatte, war jetzt durch den neuen Bahnhof verdeckt, eine Geschmacksverirrung, die sich eine halbe Meile an den Schienen entlang erstreckte, wie ein riesiger Hundehaufen, der aus dem All herabgestürzt und hier gelandet war, zu gewaltig, um weggeschafft zu werden.
Ich spazierte stundenlang durch die Stadt und bestaunte das Ausmaß der Zerstörung. Autos fuhren durch den Daitokuji-Tempel. Der Berg Hiei, die Geburtsstätte des japanischen Buddhismus, war in einen Parkplatz umgewandelt worden, mit einem Unterhaltungszentrum oben auf dem Gipfel. Straßen, die früher von alten Holzhäusern mit Bambusspalieren gesäumt waren, wirkten jetzt aufgetakelt mit Plastik und Aluminium und Neon, die Holzhäuser waren abgerissen und verschwunden. Überall waren wuchernde Telefonleitungen zu sehen, Labyrinthe aus Elektrodrähten, Wäsche, die an fließbandgefertigten Apartmentfenstern hing, wie Tränen an schwachsinnigen Augen.
Bevor ich nach Osaka zurückfuhr, ging ich noch ins Grand-Hotel, das mehr oder weniger den geographischen Mittelpunkt der Stadt bildete. Ich nahm den Fahrstuhl in die oberste
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