Tokio Killer 04 - Tödliches Gewissen
Ihn zu sehen hatte ihr Urteilsvermögen nicht getrübt, es hatte es geschärft.
Sie hatten ihn für einen Auftrag engagiert, und er hatte unter schwierigen Umständen getan, was er konnte. Was hatten sie von ihm erwartet? Dass er ein Kind umbringt? War es schon so weit gekommen? Bei Gil ja, das wusste sie. Der würde etwas von »größerem Übel und kleinerem Übel« faseln und von »Kollateralschaden« und »sie oder wir«, falls sie ihn darauf ansprach.
Dass Rain, der doch so lange im Geschäft war - länger als Gil -, noch immer in der Lage war, den moralischen Unterschied zu machen, imponierte ihr. Es gab ihr Hoffnung, was sie selbst betraf. Sie würde nicht dabei helfen, ihm eine Falle zu stellen, nur weil er etwas getan hatte, von dem selbst Gil, wenn man ihn drängen würde, öffentlich zugeben müsste, dass es das Richtige war. Ja, es gab ein Problem, aber der Direktor, Boaz, Gil ... sie hatten einfach die falsche Lösung vorgeschlagen. Das war ihr jetzt klar. Sie musste lediglich eine bessere finden. Sie war zuversichtlich, dass ihr das gelingen würde. Falls nicht ... Nein, darüber wollte sie gar nicht nachdenken. Erst, wenn es nicht anders ging.
Irgendwo im Hinterkopf wusste sie, dass sie sich was vormachte, dass ihr Entschluss, nach einer dritten Lösung zu suchen, in den Augen ihrer Leute Verrat war. Sollten sie doch. Sie waren nicht immer so schlau, wie sie glaubten. Und ihr Einsatz war nicht so hoch wie ihrer. Für ihre Leute war Rain doch bloß eine Figur auf einem Schachbrett. Für sie selbst jedoch war er sehr viel mehr geworden.
Sie mochte ihn, hatte schon lange nicht mehr jemanden so gemocht wie ihn. Der Sex mit ihm war gut - nein, besser als gut -, aber das war nicht alles. Sie fühlte sich auch ... wohl mit ihm. Bis zu ihrer gemeinsamen Zeit in Rio hatte sie gar nicht gemerkt, dass es diese Art von Wohlgefühl in ihrem Leben nicht mehr gab. Es war schon vor so langer Zeit verschwunden, und damals hatten so viele andere Dinge sie überrollt, dass sie den Verlust nicht einmal betrauert hatte.
Sie hatte viele Affären gehabt, mehr als sie zählen konnte. Aber keiner von diesen Männern wusste, was sie machte, nicht ein Einziger. Sie konnte noch so verliebt sein, der Sex noch so gut, sie war sich trotzdem stets darüber im Klaren gewesen, dass keiner sie richtig verstand oder richtig verstehen konnte. Sie konnten ihre Überzeugungen nicht verstehen, ihre Zweifel nicht nachvollziehen, ihre Enttäuschungen nicht lindern und den immer wiederkehrenden Schmerz in ihrer Seele nicht erträglicher machen. Kein Wunder, dass sie ihrer rasch überdrüssig wurde.
Rain war anders. Sie hatte gleich zu Anfang gemerkt, dass er genau wusste, was sie machte, obwohl sie es ihm nie erzählt hatte. Er verstand sie anscheinend, ohne dass sie ihm irgendetwas erklären musste. Er war geduldig mit ihren Stimmungen. Er wusste über sie Bescheid, ja, aber er verurteilte sie nicht.
Im Gegenteil, sie spürte, dass er sie für ihre Überzeugungen bewunderte, die persönlichen Opfer, die sie dafür brachte. Sie hatte erkannt, dass eines seiner wichtigsten Charaktermerkmale das Fehlen von inneren Überzeugungen gepaart mit der Sehnsucht danach war, und sie dachte mit einem Anflug von schlechtem Gewissen daran, dass sie ihren Leuten genau das genannt hatte, als sie ihnen etwas liefern sollte, was sich bei ihm eventuell ausschlachten ließ.
Insgesamt gesehen hatte ihre Situation auch etwas Gutes: Sie waren sich beide über ihren Status im Klaren, und keiner hegte irgendwelche albernen Hoffnungen, was die Zukunft ihrer Beziehung betraf. Es konnte keine Verletzungen oder Vorwürfe geben, wenn einer von ihnen nicht angerufen hatte oder eine Verabredung absagen musste. Selbst über ihre unterschiedlichen Verbindungen und die potenziellen Interessenskonflikte, die sich aus diesen Verbindungen ergeben konnten, was ja auch schon geschehen war, herrschte Klarheit. Eigentlich war das auf eine stille Art einfach wunderbar.
All das spielte für sie eine große Rolle, aber etwas war noch wichtiger: Sie wusste, dass er ihr vertraute. Natürlich gab er seine Vorsichtsmaßnahmen niemals auf, das würde sie auch nicht erwarten. Seine Methoden waren so subtil, wie sie es von ihm kannte, und wie immer als normales Verhalten getarnt, aber sie wusste, was er tat. Die Variante, sie am Flughafen in Bangkok abzuholen und im Taxi mit ihr zum Terminal für Inlandsflüge zu fahren, war besonders gelungen, wenn auch offenkundig gewesen. Wenn Gil
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