Tokio Killer 04 - Tödliches Gewissen
oder sonst jemand sie begleitet hätte, dann wäre das Spiel schon gleich dort zu Ende gewesen. Sie vermutete, dass er noch andere Tricks auf Lager hatte, möglicherweise irgendwelche elektronischen Geräte, die sie noch nicht bemerkt hatte. Und hin und wieder fiel ihr auf, dass seine »harmlosen« Fragen versteckte Bedeutungen und Fallen enthielten. Aber das alles waren für ihn Reflexe, Gewohnheit. Sie spürte, dass er diese Taktiken brauchte, um sich selbst zu vergewissern, dass er nicht nachlässig geworden war, dass er doch nicht so naiv wäre, jemandem wie ihr zu vertrauen.
Sie hätte es Gil oder den anderen niemals gesagt, aber als sie danach fragten, hatte sie gleich gewusst, dass Rain sich mit ihr treffen würde. Was für fadenscheinige Begründungen hatte er sich wohl zurechtgelegt, um sich auf das Treffen mit ihr in Bangkok einlassen zu können? Wahrscheinlich hatte er sich eingeredet, es wäre das Risiko wert, weil sie ihm vielleicht mehr über Lavi erzählen könnte. Und vielleicht hatte er sich tatsächlich auch so was in der Art erhofft, aber sie kannte den wirklichen Grund. Der wirkliche Grund war Vertrauen.
Sie betrachtete ihn, wie er schlief, und empfand plötzlich eine solche Welle von Dankbarkeit, dass es ihr Tränen in die Augen trieb. Sie wollte ihn mit einem Kuss wecken, sein Gesicht in die Hände nehmen, ihm in die Augen sehen und ihm danken, um ihm begreiflich zu machen, wie viel ihr dieses Vertrauen bedeutete, das ihr nicht einmal die Männer entgegenbrachten, mit denen sie zusammenarbeitete. Sie lächelte schwach über diesen albernen Impuls und wartete, bis er verging. Er war in vielerlei Hinsicht ein seltsamer Mann, und gerade das fand sie anziehend. Manchmal sah sie etwas in seinen Augen, das sie daran erinnerte, was sich in die Augen ihrer Eltern geschlichen hatte, nachdem ihr Bruder im Libanon getötet worden war. Der Blick berührte sie, und es berührte sie auch, wie er den Blick unterdrückte, wenn er merkte, dass sie zu genau hinsah. Einmal hatte sie ihn gefragt, ob er je ein Kind gehabt hatte. Er hatte das verneint. Sie hatte nicht nachgehakt, weil sie spürte, dass die Erlebnisse, die für einen solchen Blick verantwortlich waren, ganz allmählich und nicht so direkt angesprochen werden mussten, wenn überhaupt.
Sie wusste, dass die Chancen schlecht für sie beide standen, aber darüber wollte sie jetzt nicht nachdenken. Stattdessen überlegte sie, wie sie sich dafür entschädigen würden, wenn alles vorbei war, und dass man sie fast zu Gegenspielern gemacht hatte. Sie waren in Macau zusammen gewesen, in Hongkong, und jetzt in Thailand. Alles sein Territorium. Und natürlich Rio, das so etwas wie neutraler Boden war. Sie spürte plötzlich den Wunsch, ihn mit nach Europa zu nehmen, wo sie sich inzwischen mehr zu Hause fühlte als in Israel. Vielleicht nach Barcelona oder an die Amalfiküste. Irgendwohin, wo er noch nie gewesen war, wo ihre gemeinsame Zeit unbefangen sein konnte, unbelastet durch Erinnerungen.
Sie betrachtete ihn. Sie hatte nie einen Mann gekannt, der so leise schlief. Es war fast unheimlich, dass jemand sogar im Schlaf verstohlen sein konnte.
Nach einer langen Zeit schlief sie ebenfalls wieder ein.
9
AM NÄCHSTEN MORGEN wachte ich früh auf. Delilah schlief noch. Ich stand auf, ging leise in den Wohnbereich und schob die Teakholztüren zu, die ihn vom Schlafbereich trennten. Ich nahm mein Handy und legte eine von den zusätzlichen SIM-Karten ein, die ich in Bangkok gekauft hatte, was dem Gerät praktisch eine neue Identität verlieh. Dann ging ich in die Toilettenkabine, schloss die Tür und schaltete das Handy an. Ich musste zwei Anrufe erledigen, und dabei wollte ich ungestört sein. Normalerweise benutze ich lieber kein Handy, wenn ich mich irgendwo länger aufhalte, aber mit der neuen SIM-Karte war das Gerät steril. Und ich würde ja auch nur kurz telefonieren.
Zuerst Tatsu, mein alter Freund und meine Nemesis bei der Keisatsucho, dem japanischen FBI. Tatsu war mir Gefälligkeiten schuldig, weil ich Murakami ausgeschaltet hatte, einen Yakuza-Killer, den er außerdienstlich behandelt haben wollte, und es war an der Zeit, einen Gefallen bei ihm einzufordern.
Sein Handy klingelte einmal. Dann hörte ich seine Stimme. Da er nie gern Silben oder gar Worte verschwendet, sagte er nur: »»Hai.«
»Hallo, alter Freund«, sagte ich auf Japanisch. Es trat eine Pause ein, und ich stellte mir ein seltenes Lächeln vor. »Hallo«, sagte er. »Ist eine
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