Tokio Killer 06 - Letzte Vergeltung
unserem Zerwürfnis, woraufhin ich das Bulletin Board aufgelöst hatte. Erst hinterher merkte ich, dass ich die Möglichkeit einer Nachricht vermisste, dass ich mich daran gewöhnt hatte, mit dem Vergnügen einer kleinen täglichen Hoffnung zu leben.
Ich gab es wirklich nur ungern zu, weil Dox mich mit seiner ungestümen Art, seinen ständigen Witzeleien und seiner Neigung, während einer Operation zu improvisieren, in den Wahnsinn trieb. Aber er war inzwischen der engste Freund, den ich je hatte. Dabei hatte ich mir anfangs nicht viel aus ihm gemacht, als wir uns in Afghanistan kennenlernten. Im Einsatz war er verdammt gut, aber er ging mir gehörig auf die Nerven mit seinen ständigen Mätzchen und der kontaktfreudigen Art. Dann, vor ein paar Jahren, hatten einige Elemente bei der CIA versucht, aus der afghanischen Verbindung Kapital zu schlagen, indem sie mir Dox in Rio auf den Hals hetzten. Doch letztlich kam es zwischen uns beiden zur Zusammenarbeit. Die Partnerschaft war zunächst nur aus der Not geboren, und ich misstraute ihm. Aber im Hongkonger Hafen Kwai Chung hatte er eine Tasche mit fünf Millionen Dollar zurückgelassen, um mir das Leben zu retten. Mit dieser einen bemerkenswerten Tat hatte er meine Abwehr durchbrochen und meine gesamte Weltsicht verändert. Ich schlug mich noch immer mit den Nachwirkungen herum. Hätte ich das Gleiche für ihn getan? Heute würde ich nicht zögern, aber damals … nein, ich musste zugeben, dass ich es damals nicht getan hätte. Zu der Zeit traute ich keinem Menschen über den Weg, hielt niemanden für vertrauenswürdig. Ich glaubte an Präventivverrat. Ich hab mal einen Film gesehen, in dem einer sagt: »Menschenskind, ich würde einen Mann in einem fairen Kampf töten … oder wenn ich glaube, dass er einen fairen Kampf anfangen will.« Das war ich. Verrat war an und für sich ganz in Ordnung, der andere durfte einem bloß nicht zuvorkommen. Aber Dox hatte meine Sicht verändert. Außer ihm hatte nur noch ein weiterer Mensch eine derart tiefgreifende Wirkung auf mich gehabt: Delilah.
Als ich wieder einmal meine regelmäßige Stippvisite in einem Internetcafé machte, sah ich, dass ich eine Nachricht von dem großen Scharfschützen hatte. Ich lächelte und öffnete sie, rechnete lediglich mit einem Bericht über das Wetter auf Bali und vielleicht eine Andeutung auf irgendeine frische Eroberung. Das Übliche von Dox.
Ich täuschte mich gewaltig. Die Nachricht lautete: Wir haben Ihren Freund unweit seiner Villa auf Bali geschnappt. Im Moment geht es ihm noch gut. Aber wenn wir nicht innerhalb von vierundzwanzig Stunden nach Versendung dieser Nachricht von Ihnen hören, können wir für sein weiteres Wohlergehen nicht garantieren.
Ich spürte, wie mir das Blut aus dem Gesicht wich, einen Adrenalinstoß in der Magengegend. Das konnte kein Witz sein. Dox nahm mich zwar ganz gern mal auf die Schippe, aber so weit würde er niemals gehen. Ich blickte von dem Monitor auf und sah mich um, instinktiv, nutzloserweise, dann wieder auf die Nachricht. Es war eine Telefonnummer angegeben – Dox’ Handy. Mehr nicht.
Die Nachricht war um 2.00 Uhr morgens abgeschickt worden. Greenwich Mean Time. Also um 3.00 Uhr in Paris. Das hieß … Scheiße, vor über zwölf Stunden. Mir blieben keine zwölf Stunden mehr.
Ich löschte die Daten und schloss den Browser, ging dann nach draußen. Autos brausten über den Boulevard de Magenta, welkes Laub wirbelte hinter ihnen auf. Fußgänger rempelten mich an, strebten ihren Zielen entgegen, die Köpfe gegen den kühlen Winterwind gesenkt, die Schultern hochgezogen. Eine Flut drängender Fragen und ängstlicher Gedanken stürmte auf mich ein, versuchte, sich Einlass zu verschaffen, und einige Minuten lang konzentrierte ich mich nur auf meine Atmung, ließ die kalte Luft auf mich wirken, um mir einen klaren Kopf zu verschaffen.
Was weißt du, dachte ich. Nicht was du vermutest; was du weißt. Fang damit an.
Es war nicht viel, was ich wusste. Irgendwer hatte Dox geschnappt. Wer auch immer die Leute waren, sie waren gut. Sie hatten ihn gezwungen, das Bulletin Board preiszugeben, was bedeutete, dass sie skrupellos waren. Jetzt wollten sie irgendwas von mir.
Was noch? Das Board war eine Gefahr. Wenn sie gut genug waren, um Dox zu überwältigen, dann waren sie auch gut genug, um die URL zu hacken und festzustellen, wo sich der Computer befand, von dem aus ich auf das Bulletin Board zugegriffen hatte. Ja, ich musste davon ausgehen, dass ihnen
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