Tokio Killer 06 - Letzte Vergeltung
Künstlichkeit der Stadt, ihren Lichtern und ihrem Gelächter und ihren unnatürlichen Regeln.
Ich hatte seit Jahren nicht mehr an Crazy Jake gedacht. Der Wahnsinn des Krieges war sein Nährboden gewesen, er war tiefer und tiefer ins Herz der Finsternis eingetaucht, bis er von ihr besessen war, bis sie seine Sehnen durchzog und seine Adern durchströmte. Ich war der Einzige, dem er noch traute, und deshalb setzten sie mich auf ihn an. Er wusste es. Ich hätte es nicht tun können, wenn er mich nicht gelassen hätte. Er konnte das, was er geworden war, nicht töten. Jemand anderes musste das für ihn erledigen.
Auf einmal hatte ich nur noch den dringenden Wunsch, vier einfache Wände um mich herum zu haben und zu schlafen, vor allem zu schlafen. Ich ließ mich von einem Motorradtaxi zum Hotel New World bringen, das, wie ich aus meinem Reiseführer wusste, groß, anonym und bei japanischen Touristengruppen beliebt war. Ich nahm ein heißes Bad, fiel in das passable, aber nicht gerade tolle Bett und war auf der Stelle eingeschlafen, als hätte ich einen dreißig Kilo schweren Rucksack durch den Dschungel geschleppt und nicht getrieben von den ruhelosen Geistern der Vergangenheit die Straßen durchstreift.
9
AM NÄCHSTEN TAG SETZTE ich meine Erkundung des Terrains fort: das Muster des Verkehrs (es gab keines), das Sicherheitspersonal (vor Banken, Juwelierläden und nobleren Hotels), die besten Aussichtspunkte (das Rex, Saigon Tax, ein paar Hotelrestaurants). Ich hielt nach allem Ausschau, was mir deplatziert vorkam, nach irgendwelchen Anzeichen für eine Falle. Ich experimentierte mit unterschiedlichen Rollen. Als Amerikaner und mit einem Stadtplan bewaffnet, wurden mir am laufenden Band Fahrten mit Motorradtaxis und Cyclos, einer Art Fahrradrikscha, angeboten; als Japaner dagegen weniger. Als ich mir ein paar Klamotten gekauft hatte, wie die Einheimischen sie trugen, und anfing, ihren Gang, ihre Haltung und ihre Mimik nachzuahmen, ließ man mich völlig in Ruhe.
Ich aß zu Mittag – vietnamesische Reisnudelsuppe und Wassermelonensaft –, dann kaufte ich mir ein Stativ für die Digitalkamera Nikon D70 SLR1, die ich mitgebracht hatte. Ich arbeitete alles zu Ende aus und war zufrieden. Danach konnte ich nur noch warten.
Um sechs Uhr abends war die Sonne untergegangen, doch die Luft war noch feuchtwarm. Mein Hemd war am Rücken und auf der Brust dunkel vor Schweiß, das Menschengewimmel und das insektenhafte Gebrumm von Motorrädern hautnah. Ich setzte mich in eine Eisdiele um die Ecke vom Rex und wartete. Ich bestellte ein Eis in der Waffel und genoss die schwache, regelmäßig wiederkehrende Brise, die ein einsam vor sich hin schwenkender Deckenventilator in meine Richtung blies. Dreißig Leute saßen dicht an dicht um mich herum, aber sie schenkten mir keine Beachtung. Ich hatte die Schwingungen der Einheimischen aufgesogen und verschmolz mit ihnen.
Mein Handy summte. Ich blickte aufs Display – Dox’ Nummer – und nahm ab. »Ja.«
»Ich bin da«, sagte Hilger. »In der Stadt. Wo sind Sie?«
Ich legte einen Fünfzigtausend-Dong-Schein auf den Tisch und ging los. »Distrikt Eins. Und Sie?«
»Ebenso. Wo treffen wir uns?«
Ich blieb in Bewegung, beobachtete den Bürgersteig und die Straße. »Kennen Sie das HSBC-Gebäude?«
»Nein, aber ich finde es bestimmt.«
»Fragen Sie jemanden. Sie können es fast von überall im Distrikt aus sehen – so viele Hochhäuser gibt es nicht. Im Erdgeschoss ist ein Coffeeshop. In zehn Minuten treffen wir uns da.«
Ich legte auf und eilte zum Rex. Zwei Minuten später war ich an meinem Ausguck auf dem Balkon im dritten Stock. Die Glühbirne war nicht ersetzt worden. Ich baute die Kamera und das Stativ auf und blickte dann durch das 400-mm-Tele hinunter auf die Statue von Ho. Ich konnte jedes Detail erkennen. Falls irgendwer Fragen stellte, war ich bloß ein japanischer Hobbyfotograf und machte Aufnahmen von dem Platz unter mir. Aber ich rechnete nicht damit, dass mich jemand ansprechen würde. So etwas war im Rex nicht üblich.
Zehn Minuten später klingelte mein Handy. Es war Hilger. »Sie sind nicht da«, sagte er.
»Ich bin nervös geworden. Ein öffentlicherer Treffpunkt ist mir doch lieber.«
Kurzes Zögern. »Verarschen Sie mich nicht, Rain. Wenn ich das Treffen abblase, stirbt Ihr Freund.«
Das war ein Bluff. Was immer er von mir wollte, er wollte es unbedingt, sonst wäre er nicht so weit gegangen. Ich konnte ihn mit Sicherheit noch ein bisschen weiter
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