Tokio Killer 06 - Letzte Vergeltung
auffälligste Unterschied der war, dass die große Neonreklame nicht mehr für Sony warb, sondern für Motorola. Gleichfalls noch vorhanden, direkt rechts vom Rex, war das in französischer Architektur erbaute Rathaus, dessen cremefarbene, mit Balustraden versehene Fassade im schwindenden Tageslicht prachtvoll beleuchtet war.
Ich betrat das Hotel. Die Lobby war zwar renoviert worden, wirkte aber im Großen und Ganzen noch so heruntergekommen wie eh und je. Ich schmunzelte in stiller Verwunderung darüber, dass ein Gebäude Krieg und Kommunismus und den Verlauf von Jahrzehnten so unbeeindruckt überstehen konnte. Bei jedem Schritt war mir, als würde ich in der Zeit zurückgehen. Der junge Mann, der ich einst war, hatte das Hotel in Begleitung einer Prostituierten betreten, mehr als einmal. Ich staunte, mit welcher Klarheit ich mich an Gesichter und Augenblicke erinnern konnte, sogar an die Namen, die sie sich gegeben hatten, vor zigtausend Nächten.
Ich nahm eine Treppe in den fünften Stock und erkundete von dort, trotz der Schilder, die nur angemeldeten Gästen den Zutritt erlaubten, das labyrinthische Innere des Hotels. Abgesehen von den öffentlichen Bereichen war alles unverändert: Flure mit offenen Balkonen am Ende; verblichene Holztäfelung und robuste Fliesenböden; leere Sofas gegenüber Polstersesseln in versteckten Vestibülen, Couchtische und Aschenbecher, die absurderweise bereitgestellt worden waren, wohl in der melancholischen Hoffnung auf eine Gesellschaft, die Jahrzehnte zuvor weitergezogen war. Bis hin zu den dicken Geckos, die sich die vom grellen Neonlicht der Korridore angelockten Insekten schmecken ließen, war alles so, als hätte es nur auf mich gewartet.
Ich ging durch eines der Treppenhäuser hinunter in den dritten Stock und betrat dann am Ende des Korridors einen Balkon. Von dort hatte ich eine einwandfreie Aussicht auf das Rathaus und den Platz davor. Ausgezeichnet.
Es gab nur ein Problem: eine einzelne in die Decke direkt über mir eingelassene Glühbirne. Ich nahm ein Taschentuch und drehte sie heraus. Ich bezweifelte, dass irgendwer es bemerken und vor dem nächsten Morgen eine neue einsetzen würde. Falls doch, würde ich auch die einfach wieder rausdrehen.
Ich nahm die Treppe nach unten und ging nach draußen zu der Ho-Chi-Minh-Statue auf dem Platz vor dem Rathaus. Ich nahm das Hotel in Augenschein. Der Balkon war deutlich dunkler geworden, aber nicht auffällig. An der Fassade gab es noch reichlich andere unbeleuchtete Stellen, und ich war zuversichtlich, dass Hilger diese eine nicht bemerken würde. Und selbst wenn, würde er nicht wissen, dass ich dort im Dunkeln stand.
Das Saigon Tax hatte sich stärker verändert, vor allem wegen des besseren Warenangebots. Neben Schmuck, Armbanduhren, Plasmafernsehern und Heimkinoanlagen standen Panasonic-Massagestühle zum Verkauf. Langsam, aber sicher wurde Saigon wohlhabend. Die Raumeinteilung war jedoch noch genauso wie in meiner Erinnerung: vier Etagen, mit einem offenen Atrium vom Erdgeschoss bis ganz nach oben: drei Treppenhäuser, zwei Rolltreppen, ein Aufzug; Ein- und Ausgänge auf drei Seiten. Perfekt.
Bis spät in die Nacht durchstreifte ich die Innenstadt und machte mich wieder mit der Gegend vertraut, saugte jede Kleinigkeit auf. Ich war erstaunt, wie wenig sich die ganze Stadt verändert hatte, genau wie das Rex. Vor knapp einem Jahr war ich in Bangkok gewesen und hatte es kaum als die Stadt wiedererkannt, die ich das erste Mal während des Krieges besucht hatte. Doch hier hatte der Kommunismus Veränderungen gebremst, und erst in letzter Zeit war Saigon in Schwung gekommen. Einige Straßennamen lauteten jetzt anders, das ja. Und ein paar neue Hochhäuser waren entstanden – ein Citibank-Gebäude, eines für HSBC –, aber alles in allem war die niedrige Skyline dieselbe. Ich erkannte einige Zeitgenossen vom Rex: das Caravelle, mit einem hohen, neuen Flügel; das Majestic, das noch immer oberhalb vom Saigon River thronte. Der Präsidentenpalast, dessen Eisentor von nordvietnamesischen Panzern niedergewalzt worden war, als der Süden 1975 kapitulierte, war erhalten geblieben, in Wiedervereinigungspalast umgetauft worden und stellte heute eine Touristenattraktion dar. Ich staunte über die fast greifbare Gegenwart des jungen Mannes, der diese Straßen durchwandert und diese Sehenswürdigkeiten gesehen hatte. Ich war längst nicht mehr dieser Mann, aber seine Erinnerungen waren nun meine, sein dunkles Geschenk an mich; sie
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