Tokio Killer 06 - Letzte Vergeltung
ein paar Sekunden spähte sie wieder hinein. Rain hatte jetzt mit Handstandliegestützen angefangen, freistehend, nicht an der Wand. Diesmal langsam: hoch, runter bis auf die Stirn, halten, dann wieder hoch. Sie zählte zehn, und dann ließ er sich nach hinten in eine Brücke fallen und machte weitere fünfzig Liegestütze, verkehrt herum. Vorn auf seinem T-Shirt hatte sich eine dunkle Linie Schweiß gebildet.
Er drehte sich um und stand auf, und Delilah zog sich wieder zurück. Als sie erneut hineinschaute, hing er an der Querstange von einem der Geräte, die Hände weit auseinander. Sie sah genauer hin … hielt er sich nur an den Fingerspitzen fest? Ja, tatsächlich. Er machte zwanzig Klimmzüge, ließ sich dann fallen und fing mit Schattenboxen vor dem Spiegel an. Nein, das war nicht bloß Schattenboxen, merkte sie; er baute andere Elemente mit ein, Reiß- und Schlagbewegungen, die sie erkannte, wie eine Art individuelle Karate-Kata. Als er sich im Kreis drehte, sah sie sein Gesicht. Seine Augen waren geschlossen, und sie war erstaunt, sogar beunruhigt über die Intensität, die in seinem Ausdruck lag. Das war für ihn kein Tanz, das wusste sie; die Bewegungsabläufe waren Techniken, die er anwenden konnte, angewendet hatte, um zu töten. Sie fragte sich, was oder wen er sich gerade vorstellte, dass sein Gesicht eine derartige wilde Entschlossenheit ausstrahlte, und sie vermutete, dass es Hilger war.
Sie wusste, dass tief in Rains Persönlichkeit ein intensiver dunkler Wesenszug lag, der nur selten an die Oberfläche kam. Genau diese Eigenschaft faszinierte sie an ihm und machte, wie sie zugeben musste, einen Teil seiner Attraktivität für sie aus. Doch er zeigte sie ihr nie, und bislang hatte sie immer nur kurze und zufällige Blicke darauf erhascht. Sie fragte sich, wieso er sich jetzt so gehenließ, in einem Raum mit so vielen Fenstern. Bestimmt lag es an dem Gefühl von Ungestörtheit, das die Hotelanlage vermittelte. Dann wurde ihr klar, dass sie wahrscheinlich die falsche Frage stellte. Vielleicht ließ er sich ja gar nicht gehen. Vielleicht konnte er gar nicht anders. Wie auch immer, so lange hatte sie ihn noch nie ohne sein Wissen beobachtet, und sie fand es ebenso faszinierend wie erregend.
Nachdem er die Übungen fünf Minuten lang gemacht hatte, begann Rain mit dem Dehnen, und Delilah wusste, dass sich sein Training dem Ende näherte. Sie zog sich vom Fenster zurück und ging wieder zur Garden Suite.
Kurz darauf saß sie bei gedimmtem Licht vor dem Kamin und hörte den Schlüssel im Schloss. Sie stand auf und sah, dass die Tür sich einen Spalt öffnete, dann ganz aufschwang, als Rain sie erkannte.
»Hey«, sagte er und betrachtete sie anerkennend. Er war erhitzt vom Sport, und es gefiel ihr, wie das T-Shirt an ihm klebte.
»Hey«, sagte sie lächelnd. Sie hatte eigentlich vorgehabt, ihm Vorwürfe zu machen, weil er bei ihrer Ankunft nicht da gewesen war, doch jetzt freute sie sich bloß, ihn zu sehen.
Er verriegelte die Tür, ging dann zu ihr und küsste sie leicht. Sie hob eine Hand an seinen Hinterkopf, hielt ihn fest und verlängerte die Begrüßung.
Er hob die glänzenden Arme wie ein Arzt vor einer OP. »Ich bin ganz feucht«, sagte er.
Sie stieß ein kleines Lachen aus. »Ich auch. Aber ich hab Hunger … Wie wär’s, wenn du duschst und wir anschließend was essen?«
Sie entschieden sich für die zwanglose Lounge statt für das eher förmliche Restaurant und saßen nebeneinander an einem Ecktisch, umgeben von dunkler Wandtäfelung, stimmungsvollem Licht und einem Holzfeuer. Nach einer Woche Trennung fand sie, dass er besonders gut aussah, leger gekleidet in einer verwaschenen Jeans, einem karierten Oxfordhemd und dem Kaschmirblazer, die dunklen Haare noch nass von der Dusche. Delilah bestellte sich Rinderfilet mit Stilton; Rain nahm Brathähnchen mit Polenta, und vorneweg teilten sie sich eine Terrine Gänseleber mit Hummer-Mais-Sauce. Rain suchte eine Flasche ’89er Lynch-Bages Bordeaux aus, und während sie aßen und tranken, stellte sie ihm Fragen und versuchte, aus den Antworten schlau zu werden.
»Was will Hilger?«, fragte sie leise. »Wieso macht er das?«
Fast eine Minute lang schwieg Rain. Er drehte den Stiel seines Weinglases mit den Fingern, die Augen auf die Flüssigkeit darin gerichtet. Als Delilah schon nicht mehr mit einer Antwort rechnete, sagte er: »Ich soll drei Jobs für ihn erledigen.«
Es erübrigte sich nachzufragen, worin die Jobs bestehen würden. Sie
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