Tokio Killer 06 - Letzte Vergeltung
wusste, dass er ihr keine Einzelheiten verraten würde. Eigentlich war sie nicht mal sicher, ob sie es wissen wollte.
»Was wirst du machen?«, fragte sie.
Wieder schwieg er lange. Dann sagte er: »Wenn ich die Jobs nicht erledige, tötet Hilger Dox. Wenn ich die Jobs erledige, tötet er Dox, sobald ich fertig bin.«
»Nicht nur das. Er könnte …«
»Ja, wahrscheinlich ist einer der Jobs ein Hinterhalt, um auch mich auszuschalten. Ich weiß. Deshalb muss ich rausfinden, wo Dox festgehalten wird, und ihn befreien. Sonst überlebt er die Sache nicht.«
Delilah konnte seiner Einschätzung nur zustimmen. Sie sagte: »Du versuchst also, Zeit zu gewinnen.«
Rain nickte. »Zeit und Informationen. Ich hab mich auch deshalb mit Hilger getroffen, weil ich ihn aus seinem Versteck locken wollte. Jemanden aufzuspüren, der sich nicht von der Stelle rührt, ist schwer. Wenn er sich bewegt, hinterlässt er eine Spur.«
»Hat er eine hinterlassen?«
»Bisher nur kleckerweise. Ich weiß, dass Dox auf einem Boot ist, und bei einem unserer Anrufe waren sie in Jakarta. Er bewegt sich vermutlich zwischen diversen indonesischen Inseln und vielleicht Häfen in nahe gelegenen Ländern hin und her. Ich versuche noch, es einzugrenzen.«
Sie hütete sich, ihn zu fragen, ob er bereits einen der Jobs erledigt hatte. Instinktiv wusste sie, dass die Antwort ja lautete. Und doch hatte es nicht gereicht. Er würde es noch einmal machen müssen. Gott.
Sie nahm einen Schluck Wein, überlegte. »Und du bist sicher, dass Dox noch …«
Er nickte. »Ich habe zweimal mit ihm gesprochen. Beim ersten Mal hat Hilger irgendwas mit ihm gemacht, um ihn zum Schreien zu bringen. Er hat lange geschrien.«
Er sagte das mit so monotoner Stimme und reglosem Gesicht, dass es sich auch genauso gut um eine Zeitungsmeldung hätte handeln können, nicht um die Folter eines Freundes, deren Zeuge er geworden war. Was musste es ihn kosten, so eine Erinnerung mit einer solchen Sachlichkeit wiederzugeben?
Sie nahm seine Hand und sah ihn an. »John, es tut mir leid.«
Er schüttelte leicht den Kopf, die Augen noch immer auf das Weinglas gerichtet.
»Hey«, sagte sie. Mit der anderen Hand nahm sie sein Kinn und drehte sachte sein Gesicht in ihre Richtung. Er sah sie an, und als sie die Leere in seinen Augen sah, zuckte sie unwillkürlich zusammen. Sie hatte schon einmal solche Augen gesehen, bei Gil, ihrem Kollegen, dem eiskalten, hocheffizienten Killer, der in Hongkong ums Leben gekommen war. Aber Gils Augen waren immer so gewesen; mehr war nicht in ihm drin. Umso schlimmer war es, diesen Blick bei John zu sehen, den sie so viel besser kannte, der ihr so ans Herz gewachsen war.
Er blinzelte, und auf einmal war er wieder da, seine Augen wieder voller Leben. Er schluckte und sah weg. »Möchtest du ein Dessert?«, fragte er und hielt nach dem Kellner Ausschau.
Sie ließen sich zum Abschluss ein Grand-Marnier-Soufflé schmecken, tranken dazu ein Glas ’85er Graham’s Port, gefolgt von einem French-Press-Kaffee. Der Ausdruck, den sie in seinen Augen gesehen hatte, kehrte nicht zurück, aber sie hätte auch nicht sagen können, dass er wieder er selbst war. Es war fast so, als ob irgendein anderer ihn gekonnt nachahmte, wenn auch nicht ganz natürlich, weil immer wieder das Gespielte, das Bemühen durchschien. Aber wieso? Was verbarg er?
Zurück in der Suite, goss Rain ihnen beiden einen kräftigen Schluck von dem Glenmorangie ein. Das Feuer war heruntergebrannt, das Licht ausgeschaltet, und sie sah von der Couch aus zu, wie er im Schein der Glut kniete, die glimmende Kohle schürte, Holz nachlegte und das Feuer wieder in Gang brachte. Schon bald züngelten die Flammen auf, und sie dachte, er würde sich zu ihr setzen. Aber das tat er nicht. Er blieb, wo er war, auf dem Boden kniend, eine Hand unter dem Whiskeyglas, die andere darum gelegt, und schaute mit dem Rücken zu ihr in die Flammen.
»Setzt du dich zu mir?«, fragte sie.
Nach kurzem Zögern kam er wortlos zur Couch und setzte sich ein kleines Stück von ihr entfernt.
»Was hast du?«, fragte sie nach einem Moment.
»Ich muss über allerhand nachdenken.«
»Willst du drüber reden?«
Er trank einen Schluck Whiskey. »Ich weiß nicht, wie.«
Sie sah ihn an. »Vielleicht ist das das Problem.«
Er erwiderte den Blick, und seine Augen wurden schmaler. »Nein. Das Problem ist das Problem. Nicht meine Unlust, drüber zu sprechen.«
»Dann weißt du also doch, wie, du willst nur nicht.«
Einen Moment
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